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Gondeln aus Glas

Gondeln aus Glas

Titel: Gondeln aus Glas
Autoren: Nicolas Remin
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wahrscheinlich von hinten über den Kopf des Opfers geworfen und zugezogen hat. Einen Kampf würde ich das nicht nennen. Der Mann ist einfach zusammengesackt. Er ist nicht einmal gestürzt.»
    Wirklich nicht? Da hatte der gute Doktor wohl etwas übersehen. Tron stützte den Arm auf sein linkes Knie und setzte ein überlegenes Lächeln auf.
    «Und der Bluterguss im Gesicht? Diese rötliche Verfärbung auf den Wangenknochen?» Einen Augenblick lang befriedigte ihn die Vorstellung, etwas entdeckt zu haben, was Dr. Lionardo entgangen war.
    Anstatt zu antworten, zog Dr. Lionardo ein wei ßes Tuch aus der Tasche seines Gehrocks, befeuchtete es mit der Zunge und rieb damit über die gerötete Stelle auf dem Gesicht des Toten. Anschließend wies das Tuch einen schmierigen rötlichen Fleck auf.
    «Was ist das?» Tron runzelte die Stirn.
    «Das ist Rouge, Commissario.» Dr. Lionardo
    musterte Tron amüsiert. «Er hat sich geschminkt.
    Sehen Sie, er hat sich auch einen kleinen Lidschatten gegönnt. Dachte wohl, das putzt ihn.» Der Doktor griff nach einer Haarsträhne über der linken Schläfe des Toten und hob sie leicht an. «Ist Ihnen etwas an den Haaren aufgefallen?»
    «Was sollte mir aufgefallen sein?»
    «Sehen Sie nichts?»
    Nein – beim besten Willen nicht. Was allerdings einen einfachen Grund haben konnte. Tron, Anhänger der Theorie, dass man mit dem Verstand und nicht mit den Augen erkennt, zog vorsichtshalber seinen Kneifer aus der Brusttasche seines Gehrocks und setzte ihn auf. Und jetzt konnte er sehen, was der Doktor meinte. Die Haaransätze des Toten waren grau, aber einen halben Fingerbreit weiter verwandelte sich das graue Haar in ein sattes Haselnussbraun.
    «Gefärbt», sagte Tron.
    Dr. Lionardo nickte. «Der Bursche hat versucht, jünger auszusehen, als er war. Übrigens war das Rouge frisch aufgetragen.» Er sah Tron nachdenklich an. «Vielleicht hat er ja Besuch erwartet.» Dann griff er nach seiner Tasche und erhob sich ächzend. «Aber darüber nachzudenken ist Ihr Ressort.»
    Damit hatte Dr. Lionardo Recht. Sicherlich hatte sich Kostolany nicht nur verjüngt, dachte Tron, um sich an seinem eigenen Spiegelbild zu erfreuen. Diese gefärbten Haare und das Rouge auf den Wangen – woran erinnerte ihn das? Ja, richtig. An den deutschen Schriftsteller, der vor zwei Jahren tot auf dem Lido gefunden wurde. Tron kam nur nicht auf den Namen. Bendix Grünlich? Nein. Der Mann hatte einen anderen Namen gehabt. Aber welchen? Ach, egal.

    Jedenfalls wurde, durch die Gläser seines Kneifers betrachtet, dann alles doch ein wenig schärfer. Tron sah den getrockneten Speichelfaden, der sich vom linken Mundwinkel des Toten über dessen Kinn zog, er sah zwei gelbliche Schneidezähne zwischen den (gefärbten?) Lippen des Toten, dann die kleinen, fast unsichtbaren Schnittwunden am Kinn, die beim morgendlichen Rasieren entstanden sein mochten.
    Und er sah, zu Füßen des Toten, längliche, dunkle Striche auf dem Steinfußboden, die sowohl Sergente Bossi als auch dem Doktor entgangen waren.
    Tron runzelte die Stirn und erhob sich. Die Striche setzten sich in Richtung des Flurs fort – vier dunkelbraune, unregelmäßig starke, leicht schlingernde Linien. Als er den Strichen folgte, stellte er fest, dass sie ungefähr in der Mitte des Flurs endeten.
    Die Striche, fand er, sahen aus wie … Ja, wie denn?
    Tron überlegte einen Moment lang. Wie Schleifspuren? Hatte da jemand etwas aus dem Verkaufsraum in den Flur gezogen und vom Flur wieder zurück in den Verkaufsraum? Und zwar genau dorthin, wo die Leiche Kostolanys lag? Plötzlich wusste Tron, wie die Striche entstanden waren.
    «Ziehen Sie Kostolany einen seiner Schuhe aus», wies er Sergente Bossi knapp an. «Und reiben Sie den hinteren Absatz mit der Kante über den Boden.»
    Wie Tron vorhergesehen hatte, waren das Resultat dunkelbraune, längliche Striche, die in Färbung und Beschaffenheit – ein körniger Auftrag wie Pas tellkreide auf rauem Papier – den Spuren glichen, die zum Flur führten. Er sagte lächelnd: «Es sieht fast so aus, als hätte der Mörder den Toten auf den Flur und dann wieder zurück in diesen Raum hier gezogen.»
    Dr. Lionardo runzelte die Stirn. «Was hätte er für einen Grund gehabt, die Leiche in den Flur und dann wieder zurück zu schaffen?»
    «Vielleicht, um seinerseits in diesem Raum einen Besucher zu empfangen», sagte Tron nachdenklich.
    «Einen Besucher, den der Anblick einer Leiche irritiert hätte.» Er machte eine bedeutungsvolle
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