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Gondeln aus Glas

Gondeln aus Glas

Titel: Gondeln aus Glas
Autoren: Nicolas Remin
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Summe so schnell wie möglich nach Brüssel schicken zu müssen.
    Der Einfall, wie sie die Summe beschaffen konnte, kam ihr schließlich beim Dessert, einem angestaubten Stück Schokoladentorte, deren Bekanntschaft – Hallo, Torte! – sie bereits vor drei Tagen gemacht hatte. Die beiden Raffael-Zeichnungen, die Oberst Orlow auf seiner letzten Venedigreise an diesen Kostolany verkaufen konnte, hatten ihr gutes Geld eingebracht, und es sprach nichts dagegen, diese Geschäftsbeziehung zu erneuern. Und dem Händler etwas anzubieten, das erheblich kostbarer war.

    Eine Stunde später stand sie in der Kapelle des Palazzo Farnese und zog vorsichtig das schwarze Tuch herab, das über einer Darstellung der heiligen Magdalena hing: das Brustbild einer im Gebet versunkenen, etwas fülligen Blondine. Das Gemälde, ein Tizian, war relativ klein, man konnte es mühelos in einem größeren Koffer verstauen.
    Das handliche Format hatte sie vor einem halben Jahr auf den Gedanken gebracht, eine Kopie für ihren Verwandten, den Erzherzog Maximilian, anfertigen zu lassen – damals hatte sie erfahren, dass der Erzherzog nach Mexiko gehen würde. Alle hatten das für eine gute Idee gehalten, doch dann hatte ihre Schwiegermutter plötzlich behauptet, der verklärte Gesichtsausdruck der heiligen Magdalena, der halb geöffnete, feucht glänzende Mund und die glasig verzückten Augen würden auch eine ganz andere Deutung zulassen. Das hatte dem bigotten König sofort eingeleuchtet und ihn dazu bewogen, eigenhändig ein schwarzes Tuch über die Magdalena zu breiten.
    Die angefertigte Kopie lehnte seither unbeachtet an der Kapellenwand, wo sie hinter einem Putzeimer und einem Stapel Gesangbüchern Staub ansetzte.
    Marie Sophie nahm die Magdalena von der  Wand, löste die Klammern, die das (auf Holz gemalte) Bild im Rahmen hielten, und stellte es vorsichtig ab. Dann zog sie die Kopie hinter den Gesangbü chern hervor und lehnte sie neben das Original. Sie konnte keinen Unterschied zwischen den Bildern erkennen. Allerdings – so hatte ihr Oberst Orlow erklärt – würde ein Experte sehr wohl in der Lage sein, die Kopie des Bildes von seinem Original zu unterscheiden. Aber war der König ein Experte?
    Wohl kaum. Außerdem hätte in absehbarer Zeit  niemand einen vernünftigen Grund, das Tuch zu lüften.
    Marie Sophie ließ sich auf ihre Knie nieder und betrachtete die beiden Gemälde eingehend. Sie studierte den umflorten Blick der Magdalena, ihren sinnlichen, halb geöffneten Mund – und plötzlich sah sie die zweideutige Erhitzung im Ausdruck der Heiligen, die ihr früher nie aufgefallen war. Ihre Schwiegermutter hatte Recht gehabt.
    Jedenfalls war das Bild für ihre Zwecke, nicht nur wegen des Formates, genau das Richtige – pures Gold. Signor Kostolany, der angeblich für den russischen Hof (wo man gewagte Bilder schätzte) einkaufte, würde sich die Finger danach lecken und entsprechend zahlen.
    Marie Sophie erhob sich, oder wollte sich erheben, denn in dem Moment, als sie sich aufrichtete, hörte sie ein Geräusch an der Kapellentür. Kniend drehte sie sich um, die Hände vor der Brust gefaltet – ein drittes Gesicht zwischen den beiden Magdalenen.
    Es war Oberst Orlow, der reglos an der Tür stand.
    Er trug die Uniform einer Armee, die es nicht mehr gab, und seine hoch gewachsene Gestalt füllte den Türrahmen aus. Die brennende Kerze in seiner Hand war gerade wie ein Dolch. Einen Moment lang schien er verwirrt zu sein. «Ich wusste nicht, dass Königliche Hoheit …» Er brach den Satz ab und räusperte sich nervös.
    Was? Dass sie die Gewohnheit hatte, nach dem  Abendessen in die Hauskapelle zu gehen, um zwei dampfende Blondinen anzubeten? «Ich wollte feststellen», sagte Marie Sophie ein wenig unwirsch, «ob diese Kopie noch existiert.»
    Es war überflüssig, zu erwähnen, worum es ging.  Der Oberst selbst hatte damals den Kopisten ausfindig gemacht und die Angelegenheit für sie abgewickelt.

    Sie sah ihn an, als sie weitersprach. «Die Kopie existiert noch, und daraus ergeben sich … interessante Möglichkeiten.»
    Der Schluss des Satzes war ein wenig rätselhaft, was den Oberst dazu veranlasste, vorsorglich auf seine Ergebenheit hinzuweisen. Er deutete eine Verbeugung an. «Vielleicht kann ich Königlicher Hoheit behilflich sein.»
    Marie Sophie senkte ihren Zeigefinger auf das linke der beiden Bilder. «Sie könnten das Bild im Rahmen befestigen und es wieder aufhängen.»
    So also verfuhr der Oberst und verhüllte es
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