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Gondeln aus Glas

Gondeln aus Glas

Titel: Gondeln aus Glas
Autoren: Nicolas Remin
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stand.

    Die Tür ging bereits nach dem ersten Klingeln auf.
    Das ersparte ihm, auf dem Hof zu warten, wo ihn womöglich ein Nachbar bemerkt hätte. Wie er es vorausgesehen hatte, war der Hausherr allein und öffnete selbst. Im Licht der Petroleumlampe, die von der Decke des Flurs herabschien, hatte sein Gesicht die gelblich graue Farbe alter Vorhänge. Fast tat er ihm leid.
    «Ah, darf ich hereinkommen?»

    Er hatte den demütigen Ton eines Mannes ange schlagen, der gekommen ist, um Frieden zu schlie ßen – was ein triumphierendes Grinsen auf dem Gesicht des Burschen erscheinen ließ. Ja, er durfte hereinkommen. Das hätte er auch ohne Erlaubnis getan, aber so war es einfacher.
    Sagenhaft, dachte er einen Augenblick später, nachdem sie den Flur durchquert und den Verkaufsraum betreten hatten. Hier hing, dicht an dicht, ein Vermögen an den Wänden. Er zählte zwei Piazzettas, drei Riccis, zwei Palma Vecchios und ein halbes Dutzend Ölskizzen von Tiepolo. Vor dem Longhi, über dessen Echtheit es unterschiedliche Ansichten gab, blieb der Bursche stehen – zweifellos in der Erwartung, dass ein zivilisiertes Gespräch alle Meinungsverschiedenheiten ausräumen würde. Letzteres wollte auch er, und da der Bursche ihm für einen Moment den Rücken zukehrte, kam er unverzüglich zur Sache.
    Er warf ihm den Lederriemen über den Kopf, riss den Riemen nach hinten und drehte ihn mit aller Kraft zusammen. Zwanzig Sekunden wehrte sich der Mann wie ein Verrückter, wobei ein Bonheur du jour umstürzte und eine Schäferin aus Meißner Porzellan zu Bruch ging. Schließlich wurden seine Bewegungen kraftloser. Er ging zu Boden, und zwei Minuten später war er tot. Kein Blut. Kein Geschrei. Eine saubere Sache.
    Als er sich aufrichtete und darauf wartete, dass sich sein Puls wieder normalisierte, kam ihm eine Idee.

    Ja, entschied er nach kurzem Nachdenken. Das würde dem Unternehmen ein zusätzliches Glanzlicht aufsetzen – ihm gewissermaßen jenen letzten Schliff geben, der bekanntlich so viel ausmacht. Also zog er dem Burschen seinen blauen Gehrock aus und vertauschte ihn mit seinem eigenen.
    Im Spiegel, der über einem Konsoltisch neben  dem Wassertor hing, sah er, dass ihm der blaue Gehrock des Toten nicht nur ausgezeichnet passte, sondern auch erstaunlich gut mit dem fröhlichen Gelb seiner Weste harmonierte. Die Kombination gab seiner Erscheinung einen Einschlag ins Theatralische – nicht unpassend für das, was anschließend auf dem Programmzettel stand.
    Er packte den Mann an den Beinen und zog ihn  in den Flur. Die Flurtür abzuschließen war überflüssig. Niemand würde später einen Grund haben, sie zu öffnen.
    Merkwürdig, dachte er, als er wieder im Verkaufsraum stand und seinen Blick über die Gemälde an den Wänden gleiten ließ. Auf vielen Bildern wurden Grausamkeiten dargestellt, doch man konnte sie betrachten, ohne dass man schockiert den Blick abwenden musste. Wirkte die Dornenkrone auf der Stirn des Erlösers nicht wie ein adrettes Hütchen?
    War es nicht putzig, wie die Pfeile in Brust und Bauch des heiligen Sebastian steckten? Und wie gemütlich sich der heilige Laurentius auf dem Rost räkelte!
    Dieser Effekt war natürlich auf die Wirkung der Kunst zurückzuführen. Die Kunst veredelte immer alles. Ach, dachte er seufzend, wenn doch der Umgang mit Kunstwerken auch die Menschen edel, hilfreich und gut machen würde! Bei sich selbst bemerkte er diese Wirkung durchaus, aber der Bursche im Flur hatte nur Geld im Kopf gehabt. Auf solche Leute konnte man verzichten.
    Er atmete tief durch, dann steckte er sich eine Zigarette an und sah sich um. Das Licht der Kerzen und der beiden Petroleumlampen schien auf einmal wärmer geworden zu sein. Selbst die Schatten, die in den Ecken hockten, wirkten weniger tief und bedrohlich. Er fand, dass der Verkaufsraum ohne den ehemaligen Hausherrn eine ganz neue Harmonie ausstrahlte. Es war genau die richtige Bühne für den nächsten Akt.
    Lediglich der umgestürzte Bonheur du jour und die Porzellanscherben auf dem Fußboden störten das friedliche Bild. Also stellte er das Möbelstück wieder auf die Beine, klaubte die Scherben vom Boden und versenkte sie in einer großen Vase aus Delfter Porzellan. Gut, dachte er, dass er nicht gezwungen gewesen war, das Rasiermesser zu benutzen. Das hätte eine Schweinerei gegeben, und er hätte womöglich noch mit Eimer und Schrubber hantieren müssen.
    Dann zog er seine Repetieruhr aus der Westentasche und klappte den Deckel zurück.
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