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Goldstein

Goldstein

Titel: Goldstein
Autoren: Volker Kutscher
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blies ihr entgegen, und sie fand sich draußen wieder, auf dem Dachgarten hoch über der Stadt. Dort drüben ragte die Gedächtniskirche dunkel aus dem Häusermeer und dem Licht, das in allen Farben aus den Straßenschluchten leuchtete. Der Verkehrslärm drang plötzlich wieder laut und klar an ihr Ohr, nicht so gedämpft wie im Gebäude. Ein Autohupen erinnerte sie daran, dass da unten das Leben wartete und die Freiheit. Nur wie dorthin kommen? Der Wind wehte Alex kalt ins Gesicht, als wolle er sie spüren lassen, dass sie sich auf fremdes Terrain gewagt hatte. Die Wunde in ihrer Hand pochte immer mehr. Alex beugte sich über die Brüstung der Dachterrasse und schaute nach unten. Der Schriftzug KaDeWe leuchtete in die Nacht und warf sein Neonlicht auf ein steiles, von Fenstern und Gauben durchbrochenes Dach. Keine Möglichkeit, irgendwie runterzukommen. Sie konnte nur beten, dass die Bullen nicht auf die Idee kamen, hier oben zu suchen. Aber wer war schon so dämlich, aufs Dach zu flüchten? Nun ja, Alexandra Reinhold war so dämlich, aber das konnten die Bullen schließlich nicht wissen.
    Mensch, du blöde Kuh, schimpfte sie mit sich selbst, da haste dich ja schön in die Falle treiben lassen!
    Nein, sie musste wieder zurück, musste irgendwie an den Bullen vorbei und nach unten, ganz nach unten und raus. Fragte sich nur wie. Alex kehrte um, ging zurück ins Treppenhaus, blieb einen Moment stehen und lauschte, nachdem sie die Tür geschlossen hatte. Nichts zu hören, immer noch alles dunkel. Erst als sie wirklich sicher war, dass die Luft rein war, stieg sie die dunkle Treppe langsam hinab, Stufe für Stufe, und öffnete unten die Tür, die zurück ins Licht führte. Die Stimmen waren nicht mehr zu hören. Ob die Bullen sich wieder verdrückt hatten? Auf der Baustelle jedenfalls war niemand zu sehen. Komisch, dass die hier nicht nachguckten. Aber das Licht hatten sie brennen lassen. Alex wunderte sich. Sieschlich so leise wie möglich bis zur Sperrholzwand und lugte durch einen schmalen Spalt.
    Mist! Da an den Aufzügen stand ein Blauer.
    Die Bullen mussten sich gar nicht die Arbeit machen und alles durchkämmen, es reichte, dass sie alle Abgänge bewachten.
    Alex zog sich zurück in den hinteren Teil der Baustelle. Vorsichtig öffnete sie eines der Fenster auf der Westseite und erschrak, wie laut der Lärm von draußen plötzlich wurde. Hoffentlich hörte man das nicht bis zu den Aufzügen. Sie streckte ihren Kopf in die Nachtluft, die nach Benzin und Regenwolken roch, und spähte ­hinaus. In gut vier Metern Tiefe erkannte sie die Galerie, die sich in der fünften Etage fast um das ganze Gebäude zog, dahinter gähnte der Abgrund der Passauer Straße. Sie könnte sich ans Fenstersims hängen, so weit wie möglich hinunterhangeln und dann springen. Das war zu schaffen. Als sie noch überlegte, was sie mit solch einer waghalsigen Aktion gewonnen hätte, entdeckte sie eine Gestalt, die sich unten auf der Galerie in eine Fensternische drückte.
    Benny.
    Den armen Kerl hatten die Bullen inzwischen also auch schon nach draußen getrieben. Er bemerkte sie nicht, hing geduckt in seinem Versteck und hielt die Tür im Blick. Alex schloss das Fenster wieder. Verdammt! Wie sollten sie aus dieser Sache jemals heil herauskommen?
    Die Schnittwunde in ihrer Hand fing wieder an zu pochen. Was für ein Scheißtag! Nur raus hier, endlich raus! Alex öffnete eine Tür an der Südseite der Verkaufsetage, auch hier war es dunkel. Sie lauschte in die Dunkelheit, und erst als sie sicher war, keine Schritte zu hören und keine Stimmen, knipste sie die Taschenlampe wieder an und erkannte einen langen Korridor in dem unruhig nervösen Lichtkegel. Ein Bürotrakt, alles neu, die Wände rochen nach frischem Putz. Langsam schritt sie den Gang hinunter, ignorierte die Türen zu beiden Seiten, dort hinten ging es links herum, vielleicht war um die Ecke noch ein Treppenhaus. Alex knipste die Lampe aus, bevor sie um die Ecke bog, sie hatte einen schwachen Lichtschein bemerkt. Nur ein Fenster am Ende des Ganges, durch das ein müdes, dünnes Licht ins Gebäude fiel. Draußen erkannte sie eine Brandmauer, hier musste es zum Wirtschaftshof hinausgehen. Wunderbar, Fräulein Reinhold, alles wie geplant, leider nur ein paar Etagen zu hoch!
    Inzwischen hatte es zu regnen begonnen. Alex wünschte nichts sehnlicher, als jetzt in diesem Regen zu stehen, mitten im Regen, der ihnen schon so viele Sommertage vermiest hatte. Sie starrte durch das Fenster in den
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