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Goldstein

Goldstein

Titel: Goldstein
Autoren: Volker Kutscher
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dass man Proletenkindern die Wunder der Natur nicht vorenthalten durfte, das sah auch Emil Reinhold ein. Alex hatte nie Augen für die Kreaturen gehabt, die sich hinter den Gitterstäben quälten, schon bei den Eisbären hatte sie an den Rückweg gedacht, denn regelmäßig spazierte die ganze Familie Reinhold zu Fuß die Tauentzienstraße hinunter, bevor es am Wittenbergplatz in die U-Bahn und zurück in den Osten ging. Schon an den ersten Schaufenstern begann Emil Reinhold seine immergleiche Predigt über die Auswüchse des Kapitalismus, während Alex und ihre Mutter mit Blicken und Gedanken längst bei den Auslagen waren. Die KaDeWe-Schaufenster hatten Alex schon damals magisch angezogen. Auch in Mutters Augen hätte man längst verblasste Träume wieder glänzen sehen können, den Traum von einem besseren Leben zum Beispiel, von einem Leben, das ihr die Diktatur des Proletariats bestimmt nicht bieten würde. Vater hatte davon nie etwas bemerkt. Oder bemerken wollen. Er hatte weitergepredigt, und seine Söhne waren ihm aufmerksame Zuhörer, vor allem Karl, der alles immer so ernst nahm. Karl, der Proletenprinz, der aufrechte Kommunist. Und nun? Nun musste er sich genauso vor den Bullen verstecken wie seine kleine Schwester, die Diebin.
    Alex hatte die Rolltreppen schon fast erreicht, da holte ein Geräusch die Gegenwart zurück, ein hartes Klack , viel näher und direkter als das in Watte gepackte Verkehrsrauschen. Sie hockte sich blitzschnell hinter zwei riesige Stoffballen und lauschte: Irgendetwas schlug da gegen Glas, ein Klackern und Kratzen an einem der Fenster. Sie versuchte, die Geräusche einzuordnen. Ein Flattern, dann ein Gurren. Als sie sich aus ihrem Versteck wagte, erkannte sie hinter der neonbunt leuchtenden Scheibe die Silhouetten zweier Tauben, die sich draußen auf dem Fenstersims breitgemacht hatten.
    Dummes Huhn! Alex atmete tief durch, um ihr pochendes Herzzu beruhigen. Eben der Spiegel und jetzt das! Benny hätte sich kaputtgelacht, wenn er sie so gesehen hätte! Seit wann war sie so schreckhaft? Seit sie gemerkt hatte, dass ihr mehr an ihrem verkorksten Leben lag, als sie zugeben wollte?
    Die Tauben stießen sich mit lautem Flügelschlag zurück in die Nacht, und Alex setzte ihren Weg fort. Mit jedem Schritt fühlte sie sich sicherer, die angespannte Nervosität, die sich beim stundenlangen Ausharren im Kleiderschrank angesammelt hatte, schmolz zusammen zu einem kleinen, wachen Kern tief in ihr drin, während sie die Wanderung durch das stille, nächtliche Kaufhaus immer mehr genoss. Es war, als sei alles in einen hundertjährigen Schlaf gefallen, und sie der einzige wache Mensch in diesem verzauberten Königreich. Das KaDeWe übertraf alle Warenhäuser, in denen sie sich bislang hatten einschließen lassen; Tietz sowieso, aber auch der riesige Karstadt am Hermannplatz verblasste gegen die Pracht am Tauentzien.
    Sie hatte den Gardinensaal verlassen und war bei den Rolltreppen angekommen. Die metallenen Stufen standen unbeweglich und tot, als habe eine böse Fee hier alles eingefroren. Fünf Etagen musste sie hinunter zum vereinbarten Treffpunkt im Erdgeschoss. Die Tabakwaren, wie immer. Das war schon zu einer Art Ritual geworden. Bevor sie loszogen, deckten sie sich mit Zigaretten ein, mit Marken, die sie sich sonst niemals leisten konnten. Benny hatte eine Nase für guten Tabak.
    Alex musste daran denken, wie sie ihn kennengelernt hatte, im Streit um eine Zigarettenkippe, die irgendein reicher Schnösel halb geraucht aufs Pflaster vor dem Bahnhof Zoo geworfen hatte. Irgendwann Anfang Februar, ein paar Wochen nur nach der Scheiße mit Beckmann, ein saukalter Tag; Alex hatte mittlerweile auch den letzten Rest des Geldes ausgegeben, das sie diesem Fettsack auf dem Weihnachtsmarkt abgeluchst hatte. Sie hatte Hunger. Und seit zwei Tagen keine mehr geraucht.
    Im selben Moment hatten sie sich auf die noch brennende Zigarette gestürzt, Alex und dieser schmale, beinah zierliche blonde Junge, der zwar linkisch wirkte, aber äußerst geschickt zur Sache ging. Und dennoch hatte Alex schneller zugegriffen. Wie er sie angefunkelt hatte, als ihre Hand die Zigarette zuerst erreicht hatte! Und sie hatte gleich zurückgegiftet, so sehr lechzte ihr Körpernach dem bisschen Nikotin. Eigentlich ein Wunder, dass sie sich dann doch zusammengerauft und die Kippe geteilt hatten, wahrscheinlich waren es seine Augen, die Alex damals milde gestimmt hatten. Von Anfang an hatte sie das Gefühl gehabt, sich um den
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