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Goldbrokat

Titel: Goldbrokat
Autoren: Andrea Schacht
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in der Lage war, aufrecht zu gehen. Hier am Rheinufer ebbte der Schmerz allmählich ab, und er schenkte den Flaneuren seine beiläufige Aufmerksamkeit. Das Dampfschiff von Köln hatte angelegt, und die Fahrgäste, die sich von ihm auf die andere Rheinseite zurücktragen lassen wollten, tröpfelten nach und nach ein. Ein schäbiges Völkchen war es, das sich hier bei dem Sommertheater vergnügte. Aber dann und wann, wenn er es sich verdient hatte, erlaubte Charnay sich die Zerstreuung, unter den billigen Flittchen Ausschau nach einem schnellen Vergnügen zu halten. Und verdient hatte er sich diese Belohnung. Hatte er nicht tagelang zäh und verbissen verhandelt und die besten Konditionen herausgeschlagen? Seine gesamte Seidenproduktion hatte er verkauft, ohne nur einmal die Contenance gegenüber dem
knauserigen Fabrikanten zu verlieren. Herrgott, war das ein Erbsenzähler gewesen und von einer puritanischen Tugendhaftigkeit, die einem Schauder über den Rücken jagen konnte.
    Heute hatte er die Hure in roter Seide ausgewählt, die leichtherzig tändelnd zunächst seine Annäherung erwiderte. Doch als er seine ihm zustehende Befriedigung einforderte, hatte sie sich ihm entzogen. Wieder wallte die Wut in ihm auf, und unter seinen Fingern spürte er noch einmal das Reißen der Seide. Ruckartig zerrte er sich seinen weißen Schal vom Hals und fuhr hektisch mit den Händen über den glatten Stoff. Es kostete ihn beinahe unmenschliche Anstrengung, ihn nicht auch in Fetzen zu reißen, aber er beherrschte sich.
    Der rote Wutnebel legte sich, und sein Augenmerk wurde auf eine junge Frau gelenkt, die mit hochgezogenen Röcken und wehenden Unterröcken den Weg zur Anlegestelle entlang lief. Ganz nahe kam sie an ihm vorbei, bemerkte ihn aber nicht.
    Charnay aber durchzuckte ihr Name in einer plötzlichen Erinnerung.
    »Ariane von Werhahn?«, flüsterte er. Und dann noch mal: »Ariane Kusan!«
    Vergessen der Schmerz in den Lenden, vergessen das Zucken in der Wange, vergessen der seidene Schal. Er beugte sich vor, um sie weiter zu beobachten. Tatsächlich, die Frau in dem schäbigen Kleid, die jetzt neben der gekrümmt gehenden Alten und den beiden schmuddeligen Kindern an Deck des Raddampfers stand, war die einstmals so schnippische junge Adlige aus dem Münsterland, die es gewagt hatte, seinen Antrag abzulehnen. Stattdessen hatte sie diesen Taugenichts von Kusan geheiratet. Nun ja, der Verbindung schien kein Glück oder keine Dauer beschieden gewesen zu sein. Heruntergekommen und ärmlich sah sie aus. Geschah ihr recht. Sie könnte in einem weitläufigen Herrenhaus im Süden Frankreichs leben, die köstlichsten Lyoner Seiden tragen, sich in der vornehmen Gesellschaft von Paris bewegen und sich zwischen Laken aus Satin seiner Aufmerksamkeiten erfreuen.

    Sie hatte anders gewählt.
    Charnays Lippen verzogen sich zu einem befriedigten Lächeln. Es war sogar noch nachträglich eine Genugtuung, dass sein Eingreifen vor Jahren solch lang anhaltende Wirkung zeigte. Er beschloss, sich an diesem Tag doch noch eine Belohnung zu gönnen. Einerseits, weil er sich vorbildlich beherrscht und seiner Wut nicht stattgegeben hatte, zum anderen, weil ihm der Anblick der verarmten Hochnäsigen das Recht dazu gab. Er würde auf seine üblichen asketischen Essgewohnheiten an diesem Tag verzichten und sich ein üppiges Mahl mit den besten Weinen, Cognac und Zigarren gönnen.

Ein Wink mit dem Fächer
    Das Wort ist ein Fächer!
Zwischen den Stäben
blicken ein Paar schöne Augen hervor.
Der Fächer ist nur ein lieblicher Flor …
     
    Johann Wolfgang von Goethe
    Tante Caro hatte große Ähnlichkeit mit einem aufgeplusterten Sperling. Ihr weit ausladendes braunes Seidenkleid umwogte mit unzähligen Volants ihre mollige kleine Gestalt. Flauschige braune Locken rahmten ihr rundes Gesicht ein, sie hatte ihre Frisur mit dem falschen Fifi ergänzt und mit einer wunderlichen Federkreation geschmückt. Wie bei besagtem Vögelchen huschten ihre dunklen Augen eilig hin und her, und ihr ständig gespitztes Mündchen – zu ihrer Jugendzeit galten kleine, herzförmige Lippen als begehrenswert – erinnerte an den Spatzenschnabel.
    Als sie mich ausreichend auf gesellschaftstaugliches Aussehen hin gemustert hatte, nickte sie anerkennend.
    »Das Kleid habe ich ja noch nie an dir gesehen, Ariane.Wirklich hübsch. Wie das Himmelblau deinen Augen schmeichelt. Die Herren werden zu seufzen haben.«
    Ich ignorierte die Anspielung auf romantische Männerreaktionen und
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