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Goldbrokat

Titel: Goldbrokat
Autoren: Andrea Schacht
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Die Raupe
    Träg und matt, auf abgezehrten Sträuchen,
Sah ein Schmetterling die Raupe schleichen;
Und erhob sich fröhlich, argwohnfrei,
Daß er Raupe selbst gewesen sei.
     
    Johann Gottfried Herder, Die Raupe und der Schmetterling
    Als der linde Frühlingswind durch die austreibenden Maulbeerbäume strich, schlüpfte die winzige, schwärzliche Seidenraupe aus ihrem Ei. Sie folgte gleich darauf ihrem untrüglichen Instinkt und begann, die saftigen Blätter zu fressen, die in ihrer Nähe ausgebreitet lagen. Nicht die goldenen Sonnenstrahlen, die durch die Ritzen der hölzernen Wand fielen, beachtete sie, nicht die leisen Stimmen der geschäftigen Frauen, die ihnen die klein geschnittene Nahrung darboten, nicht das zarte Rascheln, mit denen ihre Artgenossen durch das junge Grün krochen. Fünf Tage fraß sie und fraß und fraß, bis sie schließlich in Erstarrung verfiel. Sie hatte so viel an Gewicht zugenommen, dass sie ein neues Gewand benötigte, und so legte sie nach einem Tag völliger Ruhe die alte Haut ab – und fraß weiter.
    Nun war sie hellgrau geworden und noch viel hungriger. Nicht nur Blätter, auch die jungen Reiser der Maulbeerbäume schmeckten ihr. Bis sie wieder müde wurde und eine neue Haut benötigte. Mit frischem Mut fiel sie nach dem Erwachen über immer größere Portionen her, gefräßig, gierig, rastlos Blätter zermalmend, verdauend, wachsend.
    Noch zweimal legte sie die beengende Haut ab, bis ihr Körper fast durchscheinend weiß war. Seit sie vor einem Monat geschlüpft
war, hatte sie um das Zehntausendfache an Gewicht zugenommen und nun das Stadium erreicht, in dem sie nach einer weit größeren Ruhe als nur der kurzen Starre der Häutung verlangte.
    Sie verlor das Interesse an der Nahrung und kroch über die hölzernen Hürden, um sich einen gemütlichen Platz zu suchen. Als sie ihn zwischen den dünnen Ästchen gefunden hatte, erzeugte sie mit der klebrigen Flüssigkeit, die nun aus ihrem Maul austrat, zwei Fäden und befestigte sie an den Reisern, um Halt für die nächste Stufe ihrer Entwicklung zu finden. Dann spann sie mit gleichmäßigen Drehungen den schier endlosen Faden um sich herum.Vier Tage arbeitete sie unermüdlich, dann versank sie erschöpft in den Schlaf, um das Wunder zu vollziehen.
    So begann die Wandlung vom erdgebundenen, kriechenden Geschöpf in einen Falter, und als er schließlich den seidenen Kokon verließ, breitete der Schmetterling seine Flügel aus. Unbeschwert schwang er sich in die lichten Höhen, tanzte im Sonnenlicht über den blühenden Bäumen und begab sich auf die Suche nach seiner Partnerin.

Rückkehr aus dem Nirwana
    Ein Opfer zu bringen bringt Heil.
Wird die Schale umgekehrt,
wird sie von Unrat entleert.
     
    Demütiges Empfangen führt zu Erfolg. I Ging,Ting – die Opferschale
    Als er aus der unendlichen Schwärze auftauchte, webten die Klänge der Bronzeglocken einen Kokon aus sanften Tönen um ihn. Mit einem warmen Wind schwebte Kiefernduft durch den Raum, wo er sich mit einem Hauch von süßem Weihrauch mischte. Wunderbar körperlos fühlte er sich, losgelöst von Vergangenheit und Zukunft, eingebettet in das vollkommene Sein.
    Er wäre gewiss zufrieden auf immer hier geblieben. Doch da begann sein Wille einen Faden zu spinnen, und an diesem dünnen Fädchen entlang entstand das Begehren. Es erwachte damit auch das Verlangen und mit ihm der Wunsch zu wissen, wo er sich befand.
    Der Wille erstarkte und befähigte ihn, die schweren Lider zu heben, um die Welt durch das Tor seiner Augen in sein Bewusstsein eintreten zu lassen.
    Ein heller Raum, lichtdurchflutet. Ein Mann in einer groben, braunen Robe neben ihm. Sein haarloser Schädel glänzte wie eine polierte Haselnuss, sein breitflächiges Gesicht trug den Ausdruck unendlicher Ruhe. Regungslos saß er an seinem Lager, nur seine Augen waren beharrlich auf ihn gerichtet. Schwarze, unergründliche Augen, hinter denen er Wissen und Stille erahnte.
    Der Wille reichte nicht aus, um Worte zu formen, doch der Mann schien seine Gedanken lesen zu können.

    »Ihr seid im Hanshan-Kloster, baixi long. Seit drei Tagen. Ihr habt zu viel Opium gegessen und seid krank geworden.«
    So genau hatte er es nicht wissen wollen, denn es erinnerte ihn an vergangene Schmerzen. Er schloss die Lider wieder, doch der Mönch erhob sich mit leise wispernden Gewändern und richtete ihn an den Schultern auf.
    »Trinkt, baixi long. Der Saft der Maulbeeren wird Euch reinigen.«
    Schlucken war anstrengend, ein Teil des
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