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Goldbrokat

Titel: Goldbrokat
Autoren: Andrea Schacht
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Saftes floss ihm aus den Mundwinkeln, doch die süßsaure Flüssigkeit schwemmte das Moos aus seinem Mund. Dann durfte er wieder liegen, ruhen und dem Klanggewebe der Glocken lauschen. Gefangen in den hallenden Tönen zog sich nach und nach sein Geist zurück aus dem hellen Raum der Gegenwart in die dunklen Gefilde seines Bewusstseins. Es war nicht Schlaf, es war nicht Traum, es war nicht mehr das körperlose Treiben im Sein. Es war das Versinken im bitteren Meer der Erinnerung.
    Die waren die Schreie, mit denen seine Pein begann. Die entsetzlichen Schreie, die das Krachen und Knastern des brennenden Holzes übertönten. Die Schreie, aus unglaublicher Qual geboren, stachen wie Dolche in seine Sinne. Wieder spürte er die Hitze der Flammen, die gierig an dem Balken emporleckten, der vom Dach der Lagerhalle gestürzt war. Ein weiterer Stoffballen entzündete sich neben ihm mit einem Puffen, und das ihn verzehrende Feuer erhellte mit seinem gespenstisch zuckenden Licht die Umgebung. Er war gelähmt, hilflos, seine Augen tränten vom Rauch, das Luftholen ging nur keuchend schwer. Der Geruch von brennender Seide und verbranntem Fleisch breitete sich aus.
    Erst die lauten Befehle seines Paten weckten ihn aus der Erstarrung. Mit bloßen Händen versuchte er, ihm zu helfen, den glosenden Balken anzuheben, unter dem sein Bruder gefangen lag. Er war zu schwer, viel schwerer, als dass ein Erwachsener und ein Junge ihn hätten bewegen können.
    Vielleicht, vielleicht aber hätten sie es doch schaffen können.
Die Angst um den Verletzten, dessen qualvolles Schreien, die wüsten Flüche seines Paten setzten ungeheure Kräfte in ihm frei. Er spürte die Brandwunden an seinen Händen nicht, hörte den eigenen röchelnden Atem nicht, ignorierte das Brennen in der Lunge. Er kämpfte um das Leben seines Bruders.
    Aber plötzlich wurde ein Tor geöffnet, und das Feuer atmete die einströmende Luft mit einem gewalttätigen Aufbrausen ein.
    Die Schreie erstickten.
    Er wurde an den Schultern gepackt und aus der Halle gezerrt.
    Kühle Nachtluft umfing ihn, er wollte zusammenbrechen. Doch unbarmherzig wurde er gestoßen und gedrängt, bis er in einer Türnische niederfiel.
    Donnernd stürzte das hölzerne Gebäude hinter ihm ein, ein Funkenregen ging nieder. Stichflammen zuckten gen Himmel. Über das Bersten und Krachen hinweg aber ertönten Schüsse. Jäger und Gejagte hetzten durch die Straßen, fielen, schrien, bluteten, starben vor seinen entsetzten Blicken auf dem Pflaster. Schwarzer, öliger Rauch hüllte die Gasse ein, hustend, würgend schwankte er auf den Knien, schloss verzweifelt die brennenden Augen, doch hinter den Lidern sah er nur wieder das Gesicht seines Bruders, von Schmerz entstellt.
    Sein Pate versuchte, ihn mit seinem eigenen Körper vor der Gewalt auf der Straße abzuschirmen, und verfluchte dabei mit rauer, geschundener Stimme seinen Geschäftspartner, der feige geflohen war, statt ihnen zu helfen.
    »Er wird dafür bezahlen, dafür werde ich sorgen. Dafür wird er selbst im schreienden Wahnsinn sterben, das schwöre ich. Und wenn es die letzte Tat in meinem Leben ist«, hörte er ihn heiser flüstern.
    Und noch immer sah er das Gesicht seines sterbenden Bruders.
    Er erblickte es jetzt wieder, doch allmählich verschwand die Pein daraus, und die Züge glätteten sich. Ignaz lächelte ihn unbeschwert an, so, wie er es oft getan hatte, wenn sie gemeinsam
die Abenteuer ihrer Zukunft planten. Dann aber entfernte er sich mehr und mehr, schien sich in einen Nebel zu hüllen und verschwand in der Dunkelheit.
    »Ja, ich komme zu dir, bald«, versprach der Mann im Kloster dem sich entfernenden Geist. »Ich bin bereit, Ignaz. Ich komme zu dir. Doch für mich wird es leichter sein, über die Schwelle zu treten, als für dich.«
    In diesem Moment begannen die Krämpfe wieder, die seine Eingeweide zu verknoten, mit ihren Klauen zu zerfetzen und in Stücke zu reißen drohten, und er erkannte, dass er sich getäuscht hatte.
    Das Schicksal hatte keinen leichten Tod für ihn vorgesehen.

Zerrissene Seide
    Mädchen! Schlingt die wildesten Tänze,
reißt nur euren Kranz entzwei!
Ohne Furcht, denn solche Kränze
Flicht man immer wieder neu.
     
    Eduard Mörike
    Wir hatten uns heimlich davongemacht, Madame Mira, Philipp, Laura und ich. Weil Tante Caro den Besuch des Mülheimer Sommertheaters auf gar keinen Fall gebilligt hätte. Das war nämlich keine kulturell hochstehende Veranstaltung, auf der sich die gelangweilten Mitglieder der
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