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Gohar der Bettler

Gohar der Bettler

Titel: Gohar der Bettler
Autoren: Albert Cossery
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einem Schlafwandler gleich voran. Ein Radieschenverkäufer rief ihn bei seinem Namen und bot ihm mit gewählten Worten an, sich zu bedienen. Gohar schenkte ihm keinerlei Beachtung; er hatte Wichtigeres zu tun, als Radieschen zu essen. In seiner Eile, endlich Yeghen zu treffen, vergaß er selbst seine übliche Höflichkeit.
    Etwas später erblickte er von weitem das Haus und beruhigte sich ein wenig. Das Bordell von Set Amina war für Gohar kein Ort des käuflichen Vergnügens; er hatte es noch nie als Kunde betreten, sondern nur, um Aufgaben von hohem literarischen Wert nachzukommen. Es war, um ehrlich zu sein, eine außergewöhnlich unterhaltsame Tätigkeit, die für ihn symbolischen Wert besaß. Das Abfassen der Geschäftsbriefe für Set Amina und manchmal der Liebesbriefe für eine der Huren, die weder lesen noch schreiben konnten, betrachtete er als eine Aufgabe von allgemeinmenschlichem Interesse. Auf diese Weise wahrte er trotz seines offensichtlichen Niedergangs immer noch den Nimbus des allmächtigen Intellektuellen, der ihn früher, als er noch Geschichte und Literatur an der berühmtesten Universität des Landes gelehrt hatte, umgab. Aber das, was ihn damals so verabscheuenswürdig machte - das ganze akademische Wesen seiner Persönlichkeit -, war jetzt verschwunden. In diesem Milieu, in dem sich das Leben in seiner ursprünglichen Form zeigte und nicht durch Konformismen und herrschende Konventionen degeneriert war, täuschte Gohar niemanden; er war nicht mehr dazu verpflichtet, die ewigen philosophischen Lügen von sich zu geben, an die er damals bedauerlicherweise selbst geglaubt hatte.
    Diese Freiheit des Denkens, die sein neuer Beruf ihm ermöglichte, war für ihn eine nicht versiegende Quelle der Freude, einer üppigen und maßlosen Freude. Die Unerschöpflichkeit der menschlichen Facetten, die ein Freudenhaus des Alten Viertels zu bieten vermochte, versetzten ihn in einen Zustand anhaltender Begeisterung. Wie weit er doch die fruchtlosen und tödlichen Streitereien der Menschen und ihre verschleierten Vorstellungen von der Vernunft und vom Leben hinter sich gelassen hatte. All die großen Geister, die er jahrelang bewundert hatte, erschienen ihm jetzt wie widerliche Giftmischer ohne jegliche Autorität. Das Leben nur zu lehren, ohne es selbst zu leben, war das abscheulichste Verbrechen der Unwissenheit.
    Diese Arbeit, die als kleine Gefälligkeit angesehen wurde, warf im übrigen nur einen geringen Gewinn für ihn ab, denn diese hochqualifizierten Dienstleistungen vergütete ihm Set Amina von Zeit zu Zeit mit einem Zehn-Piaster-Stück. Das war sein einziges Einkommen, und es reichte vollauf zum Leben. Seine Wohnung kostete ihn nicht viel; und was sein Essen betraf so waren die Kaufleute im Viertel nur zu glücklich, ihm alles, was er brauchte, zu schenken. Die Gespräche mit ihm hatten sie allesamt verzaubert; einige von ihnen sahen in ihm sogar eine Art Prophet und brachten seiner gelassenen Weitsicht besondere Wertschätzung entgegen. Allerdings nutzte Gohar diese glückliche Fügung niemals aus. Er bat nie um etwas. Wenn er etwas annahm, dann vor allem deshalb, weil er diese großzügigen Spender nicht beleidigen wollte.
    Vollkommen außer Atem, blieb er stehen.
    Hinter dem Eisentor, das mit Kletterpflanzen bewachsen war, die es vor neugierigen Blicken schützten, wirkte das einstöckige Haus mit seiner schmalen, gelbgestrichenen Fassade gutbürgerlich. Ein kleiner Hof aus festgestampftem Lehmboden, in dem Abfalle herumlagen, trennte es von der Gasse. Gohar öffnete das Eisentor, faßte seinen Gehstock in der Mitte, rückte seinen Tarbusch zurecht und stieg dann mit der ganzen Selbstsicherheit, deren er fähig war, die Treppe hinauf, die ins Erdgeschoß führte. Die Tür war von innen verschlossen; Gohar klopfte zweimal mit seinem Stock gegen die Tür und hielt den Atem an. Nichts rührte sich; es schien niemand dazusein. Eine unheilverkündende Stille lastete auf Gohars Seele. Sicherlich war niemand da. Vielleicht war Yeghen schon lange wieder weg! Eine Woge der Beklommenheit durchfuhr ihn, alle seine Organe versagten gleichzeitig ihren Dienst, so als habe man ihm eine tödliche Spritze gesetzt.
    Es dauerte lange, bis sich die Tür schließlich doch öffnete. Gohar atmete tief durch. Das Mädchen, das vor ihm stand, war ausstaffiert wie eine Zuckerpuppe auf einem Jahrmarktsstand.
    Sie hatte einen kurzärmeligen, rosafarbenen Morgenmantel aus Seide an, der mit breiten grünen Rankenmustern
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