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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste
Autoren: Kai Meyer
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allem, wenn Sie von Eingeborenen angesprochen werden. Es kommt hier immer wieder zu Diebstahl und Raub.«
    Ihr lag erneut eine spitze Bemerkung hinsichtlich der Kompetenz der Schutztruppe auf der Zunge, doch sie verkniff sie sich und ging los.
    Unweit des Bahnhofs, kaum hundert Meter entfernt, gab es eine kleine Ladenzeile, auf der sich ein halbes Dutzend Geschäfte hinter hölzernen Fassaden drängte. Ein leicht erhöhter Bürgersteig aus Dielenbrettern verlief am Fuß der Häuser und war stellenweise überdacht wie eine Veranda. Im Vergleich mit den hohen Steinbauten Bremens und seinen engen, verwinkelten Straßen schien Cendrine dieser Anblick freundlich, fast idyllisch.
    Sie warf einen letzten Blick zurück zu Valerian, der noch immer nach dem Pferdewagen Ausschau hielt, dann schlenderte sie langsam an den Schaufenstern vorüber. Erfreut entdeckte sie eine Buchhandlung, daneben zwei Lebensmittelgeschäfte, eine deplaziert wirkende Porzellanhandlung und, ganz am Ende der Häuserzeile, einen winzigen Laden für Damenmoden. Wenigstens stand das auf dem Schild über dem Fenster. Als Cendrine jedoch durch die trüb gewordene Scheibe blickte, entdeckte sie in der Auslage nichts als eine unbekleidete Schaufensterpuppe aus Wachs, mager und mit vorgestreckten Handflächen, als wolle sie den Betrachter davon abhalten näher zu kommen. Dahinter verwehrte ein schwarzer Vorhang jeden Blick ins Innere des Ladens.
    Plötzlich stießen zwei Hände durch einen Spalt im Stoff, lange, knorrige Finger, offenbar von einem alten Menschen, der im Schatten des Vorhangs unsichtbar blieb. Die Hände hielten einen Blecheimer, randvoll gefüllt mit gestoßenem Eis. Vor Cendrines erstaunten Augen wurde der Eimer zu Füßen der Wachsfigur ausgeleert, und sogleich beschlug die untere Hälfte des Fensters mit hellem Tau. Hände und Eimer wurden zurückgezogen, der Vorhang schloß sich wieder.
    Cendrine blickte noch einmal zum Gesicht der Puppe auf. Die Züge wirkten unmerklich verzerrt, so als seien sie im Begriff, eine Grimasse zu schneiden.
    Die Hitze, durchfuhr es Cendrine. Die Temperaturen bringen das Wachs zum Schmelzen. Verwirrt glitt ihr Blick am nackten Körper der Frauenfigur herab. Unterhalb der Brust war durch die beschlagene Fensterscheibe nichts mehr zu erkennen.
    »Fräulein Muck!« ertönte es hinter ihrem Rücken.
    Als sie sich umschaute, rollte ein offenes Pferdegespann auf sie zu, auf dem Kutschbock ein junger Schwarzer, fast noch ein Kind. Valerian saß inmitten ihres Gepäcks und reichte ihr seine Hand, um ihr beim Aufsteigen behilflich zu sein.
    Als sie losfuhren, fragte er sie irgend etwas, doch Cendrine hörte nicht hin. Ihr Blick blieb fest auf das verzerrte Gesicht der Puppe geheftet, so lange, bis es nur mehr ein heller Fleck vor dem wallenden Schwarz des Vorhangs war.
     

KAPITEL 2
    Das Anwesen der Familie Kaskaden lag viel weiter außerhalb der Stadt, als Cendrine erwartet hatte. Die Fahrt dauerte schon anderthalb Stunden, und noch immer war ihr Ziel nicht in Sicht. Allmählich begann ihr Hinterteil auf der unbequemen Holzbank zu schmerzen, und ihre Antworten auf die Fragen Valerians, der reichlich indiskret versuchte, sie über ihre Vergangenheit auszufragen, wurden mit jedem Schlagloch knapper und unfreundlicher. Sie wußte, daß sie sich offener hätte geben sollen, aber das brachte sie nicht über sich, zumal sie immer nervöser wurde, je näher sie ihrem neuen Zuhause kam.
    Das Pferdegespann folgte einem sandigen Weg, der vom Stadtrand Windhuks nach Osten in die Auasberge führte. Unterwegs kamen ihnen in großen Abständen zwei Ochsenkarren entgegen. Auf dem letzten drängten sich zahlreiche Eingeborenenkinder, die jubelten und winkten, als sie den Wagen mit den beiden Weißen passierten. Cendrine grüßte zaghaft zurück, während Valerian so tat, als nähme er die Schwarzen überhaupt nicht wahr. Als Cendrine seinen Hochmut bemerkte, winkte sie den Kindern noch heftiger zu, um ihnen zu zeigen, daß sie die anmaßende Haltung ihres Begleiters nicht teilte.
    Schon am Bahnhof war ihr aufgefallen, wie windig es hier war, und als sie Valerian darauf ansprach – hauptsächlich um seiner unangenehmen Befragung ein Ende zu bereiten –, sagte er: »Der Wind hat der Stadt ihren Namen gegeben. Er fegt das ganze Jahr über die Hochebene zwischen den Bergen, wie durch einen Kanal. Warten Sie erst den Winter ab! Manchmal hat man Mühe, auch nur einen Schritt gegen die Windrichtung zu machen, so stark sind die Stürme
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