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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste
Autoren: Kai Meyer
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zwischen den Dünen eine einsame Welwitschia-Pflanze, wie es sie nur in dieser Region gab. Die bizarren Gewächse, strauchhohe Gebilde mit langen, tentakelähnlichen Blättern, galten als eines der größten Wunder Afrikas. Forscher behaupteten, sie würden mehrere tausend Jahre alt. Der Gedanke, die Pflanze dort vor dem Fenster habe schon zu einer Zeit an dieser Stelle im Wüstensand gestanden, als in Europa noch die Römer herrschten, jagte Cendrine einen Schauer über den Rücken.
    Valerian schien das Interesse an einer Fortsetzung ihres Disputs fürs erste verloren zu haben. Cendrine griff erneut nach dem Buch und setzte ihre Lektüre der Geschichte Südwestafrikas fort. Hin und wieder spürte sie, daß er ihr verstohlene Blicke zuwarf, doch diesmal tat sie, als bemerke sie es nicht.
    Die Sonne stieg höher, und allmählich begann sich das Abteil aufzuheizen. Cendrine hätte sich gerne umgezogen, doch das schickte sich nicht in Valerians Anwesenheit. Schließlich aber hielt sie es nicht mehr aus, und sie bat ihn, den Blick abzuwenden, während sie in ein leichtes Sommerkleid schlüpfte.
    »Ich dachte wirklich, Sie seien älter«, murmelte er, als sie bald darauf wieder auf ihrem Platz saß.
    Sie nahm den Blick nicht von ihrem Buch. »Weil Gouvernanten alt und häßlich sein müssen?«
    »Nein«, sagte er. »Weil meine Mutter keine jungen Frauen im Haus schätzt.«
    Jetzt schaute Cendrine doch zu ihm auf, aber ihre Hoffnung, er habe sie nur necken wollte, blieb vergebens. Einen Moment lang erwiderte er ihren Blick ernst und kühl und ohne die Spur eines Lächelns. Dann jedoch begannen abermals seine Lider zu zucken, und seine Augen suchten hastig die sichere Weite der Wüste.
    ***
    Der Zug erreichte Windhuk am frühen Nachmittag des nächsten Tages. Die Stadt lag im Zentrum einer langgestreckten Hochebene, die im Osten von den Hängen des Auas-Massivs und im Westen von den bergigen Savannen des Khomas-Hochlandes eingefaßt wurde.
    Rund um Windhuk gab es ausgedehnte Weideflächen, nur spärlich bewachsen, obwohl sie Cendrine, die immer noch die Ödnis der Wüste vor Augen hatte, einladend und in frischem Grün zu leuchten schienen.
    Die Stadt selbst wirkte beinahe europäisch, beherrscht von zweigeschossigen, meist weißen Gebäuden, zwischen denen hohe Bäume, sogar ganze Gärten gediehen. Cendrine verstand nun, warum sich die ersten Siedler ausgerechnet hier niedergelassen hatten, im grünen Herzen eines Landes, das ansonsten aus endlosen Wüsten und Einöden bestand.
    Der Bahnhof war nur unmerklich größer als jener in Swakopmund. Nicht viele Passagiere stiegen hier aus. Die meisten waren Soldaten und Geschäftsleute, während sich die Frauen an einer Hand abzählen ließen; sie alle waren in Begleitung. Offenbar war es nicht ratsam, als Frau in diesem Land allein zu reisen.
    Valerian ordnete an, ihr Gepäck vor den Bahnhof zu bringen, und sogleich machten sich zwei junge Eingeborene an die Arbeit. Sie trugen Hosen und Hemden nach deutschem Zuschnitt, keine Stammeskleidung.
    Auf dem Vorplatz vor dem Bahnhof schaute Valerian sich suchend um. »Eigentlich sollte uns hier ein Pferdegespann erwarten«, sagte er und war sichtlich verärgert über die Verzögerung.
    Cendrine dagegen war der Aufenthalt nur recht. Interessiert schaute sie sich um, blickte über die sandige Straße und die Holzfassaden der Häuser, beobachtete die Passanten und stellte fest, daß die meisten angesichts der Hitze in Weiß gekleidet waren. Mochten die Temperaturen hier auch nicht ganz so entsetzlich sein wie während der Fahrt durch die Namib, so brachten sie Cendrine dennoch gehörig ins Schwitzen. Sie hoffte, daß sie nicht unangenehm riechen würde, wenn sie Titus und Madeleine Kaskaden zum erstenmal gegenübertrat.
    Auch auf Valerians Stirn glänzten Schweißperlen, als er sich finster nach dem Gefährt umschaute und es nirgends entdeckte. »Tut mir leid«, sagte er. »Wenn Sie hier warten würden, werde ich versuchen, ein anderes –«
    »Bitte«, unterbrach sie ihn, »ich könnte die Gelegenheit nutzen, mich ein wenig umzusehen. Wollen wir nicht warten, bis der Wagen Ihrer Eltern eintrifft? Ich habe dort vorne ein paar Geschäfte entdeckt und würde sie mir gerne anschauen.« Mit bedauerndem Lächeln fügte sie hinzu: »Sie könnten mich begleiten, wenn nicht einer von uns hierbleiben und auf das Gepäck aufpassen müßte.«
    Er schenkte ihr einen zerknirschten Blick, nickte aber. »Gehen Sie nur. Und geben Sie auf sich acht, vor
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