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Goettersterben

Titel: Goettersterben
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Am hing kraftlos herunter und blutete aus einer klaffenden Wunde, die es gerade noch nicht gegeben hatte, und ihre andere Hand hielt ein lichterloh brennendes Holzscheit. Die Flammen züngelten nahe genug an ihren Fingern, um sie zu versengen, aber sie schien den Schmerz nicht einmal zur Kenntnis zu nehmen. Andrej streckte instinktiv die Hand aus, um sie festzuhalten, doch die junge Frau entschlüpfte ihm mit einer raschen Bewegung, sprang leichtfüßig über Abu Dun hinweg und war mit einem Satz bei der schmalen Treppe, die weiter nach unten und in den Bauch der EL CID führte. Ihre Blicke trafen sich, und Andrej las etwas in ihren Augen, das sich wie eine glühende Messerklinge in sein Herz grub und das er nie wieder im Leben vollkommen vergessen sollte. Dann war sie verschwunden, und Andrej starrte mit dumpfer Verständnislosigkeit auf den leeren Treppenschacht. »Was …?«, mummelte er verstört.
»Bei Allah!«, flüsterte Abu Dun. Dann sprang er mit einem Ruck auf die Füße und schrie: »Andrej! Sie läuft ins Pulverlager!«
Und endlich begriff er. Schmerzen und Schwäche und selbst Loki und die anderen Unsterblichen waren vergessen. Er sprang auf, schrie Esmeraldas Namen und stürzte hinter ihr her, so schnell er nur konnte. Abu Dun war schneller. Mit einem einzigen Satz war er auf den Beinen, umschlang Andrej mit beiden Armen und zerrte ihn zu der gewaltigen Bresche in der Wand und ohne das mindeste Zögern hindurch.
Die erste Explosion erfolgte, noch bevor sie ins Wasser stürzten, ein dumpfer, sonderbar trockener Schlag, dem ein blasser Lichtblitz und eine gewaltige Qualmwolke folgten. Dann tauchten sie unter, Andrej streifte endlich Abu Duns Arme ab und kam prustend und Wasser tretend wieder an die Oberfläche und fragte sich in der nächsten Sekunde ganz instinktiv, ob es wirklich eine so gute Idee gewesen war, wieder aufzutauchen, als eine Kanonenkugel keine zwei Fuß neben ihm einschlug und einen gewaltigen schäumenden Geysir in die Höhe schießen ließ. Wie in der grässlichen Szenerie eines Albtraums sah er die brennende Flanke der EL CID über sich aufragen, ein turmhoher lodernder Berg aus Holz, zerschlagen und brennend und mit zahllosen geschwärzten Wunden übersät, aus denen Flammen und Rauch loderten. Einige wenige Geschütze erwiderten immer noch das Feuer der KingGeorge , ohne dadurch mehr zu erreichen, als die Kanoniere des britischen Schlachtschiffes noch wütender zu machen.
Dann explodierte die EL CID.
Es ging zu schnell, als dass Andrej Einzelheiten sehen oder sich zumindest hinterher noch erinnern konnte. Die Welt wurde weiß, dann rot, und der Lärm der ungeheuerlichen Detonation zerriss seine Trommelfelle und löschte sein Gehör auf der Stelle aus, noch bevor die Druckwelle Abu Dun und ihn traf, ihre Lungen platzen und die Welle sie zehn, zwanzig, dreißig Fuß tief in das kochende Wasser des Atlantik hineinprügelte.
Aber das spürten sie schon längst nicht mehr.

EPILOG

D
    as Erwachen war wie immer und zugleich so vollkommen anders, dass es ihn erschreckte, als wäre es das allererste Mal. Andrej war unzählige Male gestorben und ebenso oft zurückgekehrt, und im Grunde war der Vorgang stets gleich – obwohl er niemals seine Unheimlichkeit eingebüßt hatte. Es war wie eine Geburt, ein wenig wie das Erwachen aus einem tiefen, traumlosen Schlaf, und es hatte viel von etwas, das sich nicht beschreiben ließ, weil es in keiner Sprache Worte für etwas gab, das man erlebt haben musste, um darüber berichten zu können. Natürlich gab es Unterschiede im Detail. Manchmal ging es schnell, manchmal schien es Ewigkeiten zu dauern. Manchmal waren seine Erinnerungen augenblicklich wieder da, so als hätte er nur kurz geblinzelt, um sich dann unversehens an einem anderen Ort und in einem anderen Leben wiederzufinden. Manchmal kehrten sie nur widerwillig und langsam zurück … besonders dann, wenn sein Tod nicht leicht gewesen war und mit der Erinnerung an große Qualen oder Furcht verbunden. Manchmal war es leicht und fast schon berauschend, manchmal schien es Stunden zu dauern und war die reine Pein, sodass er schon den Wunsch gehegt hatte, es möge selbst um den Preis enden, endgültig in der großen Dunkelheit und im Vergessen zu versinken. Nie aber hatte er sich vor dem Neugeborenwerden gefürchtet.
    Heute tat er es.
Es war das erste Gefühl, dessen er sich vollkommen bewusst wurde, noch während sein Geist – mühsam und unter großen Anstrengungen – langsam wieder aus dem
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