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Goettersterben

Titel: Goettersterben
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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ihn. Denn es bewies, dass er wieder er selbst war.
Ein gekünsteltes Räuspern drang in seine Gedanken. Andrej öffnete – widerwillig – die Augen, blinzelte in einen Schwall aus grellem Sonnenlicht, das ihm nicht mehr annähend so feindselig vorkam wie zuvor, sodass es ihm sofort die Tränen in die Augen trieb, und eine ebenso bekannte wie vollkommen unmögliche Stimme sagte: »Auch auf die Gefahr hin, jetzt unhöflich zu erscheinen; Señor Delãny – aber ich finde, Ihr habt jetzt lange genug den Schlafenden gespielt.«
Andrej blinzelte die Tränen weg, zwang seine Augen mit einer bewussten Anstrengung, sich an die veränderten Lichtverhältnisse zu gewöhnen, und der schwarze Scherenschnitt gerann zu einer Gestalt mit einem Gesicht, das zwar von einem blutigen Verband in zwei asymmetrische Hälften geteilt wurde, aber ebenso unmöglich war wie die dazugehörige Stimme.
»Colonel Rodriguez?«, murmelte er.
Der weißhaarige Offizier machte ein Gesicht, als hätte er unversehens in eine besonders saure Zitrone gebissen. »Nein, ich bitte Euch, Andrej«, sagte er. »Diese Zeiten sind vorbei: endgültig, hoffe ich. Nennt mich Rogers, oder meinetwegen auch Captain oder Paul … aber nie wieder Colonel.«
»Und ich hatte schon angefangen, Euch für einen der wenigen wirklich ehrbaren spanischen Offiziere zu halten«, sagte Andrej.
Rogers hob die Schultern und zog eine womöglich noch wehleidigere Grimasse. »Schließt nicht von König Philipp und Speichelleckern wie de Castello auf den Rest der spanischen Armee«, sagte er. »Es gibt eine Menge ehrbarer Männer unter ihnen. Tapfere Männer. Wäre es anders, dann würde es uns nicht so große Schwierigkeiten bereiten, sie zu besiegen. Aber trotzdem … Gott weiß, wie sehr ich mich darauf freue, wieder zu Hause zu sein. In meiner Sprache zu sprechen. Verratet es niemandem – aber ich freue mich sogar auf englisches Essen.«
Auch wenn es Andrej schwerfiel, ihm zumindest die letzte Aussage zu glauben, lächelte er pflichtschuldig, stemmte sich auf beide Ellbogen hoch und nutzte die Gelegenheit, sich unauffällig umzusehen. Sein erster Eindruck – noch mit geschlossenen Augen –, sich auf der Krankenstation des Schiffes zu befinden, war genauso falsch wie richtig gewesen. Falsch insofern, als sich das schmale Feldbett, auf dem er aufgewacht war, ganz offensichtlich auf einem der Geschützdecks der King Georg e befand. Das unregelmäßige helle Rechteck hinter Rogers, das er im ersten Moment für ein Fenster gehalten hatte, entpuppte sich bei genauem Hinsehen als Geschützklappe, die mit roher Gewalt (und fünfzehn Pfund spanischem Eisen) auf gut das Doppelte ihrer ursprünglichen Größe erweitert worden war. Rogers selbst saß keineswegs auf einem Hocker, wie er zunächst angenommen hatte, sondern hatte kurzerhand auf einem der wenigen intakten Geschütze Platz genommen Aber zugleich war es auch eine Krankenstation, weil sich wahrscheinlich das ganze Schiff in eine solche verwandelt hatte. Jemand hatte nachlässig einige Decken aufgehängt und auf diese Weise einen winzigen Privatraum für ihn geschaffen, in dem gerade Platz für sein Bett und Rogers improvisierten Kanonenstuhl war, aber Andrej sah trotzdem, dass sich die Reihen des dicht an dicht stehenden Krankenlagers durch das gesamte Deck zogen. Nicht auf allen dieser Betten lagen noch Verwundete. Manche waren bereits gestorben, ohne dass ihre Kameraden oder die für ihre Pflege Zuständigen es gemerkt hatten (oder sich darum scherten), andere würden die nächste Stunde oder zumindest die kommende Nacht nicht mehr erleben, und wieder andere würden weiterleben, aber mit dem Verlust von Gliedmaßen oder Sinnesorganen bezahlen, oder aber mit unsichtbaren, aber nicht minder schlimmen Narben, die ihre Seelen davongetragen hatten.
Und er befand sich auf dem Schiff des Siegers, dachte Andrej. Aber was war ein solcher Sieg wert?
Ungefähr so viel wie der Krieg, in dessen Namen er errungen worden war.
Er erinnerte sich noch einmal an die letzten Worte, die Loki zu ihm gesagt hatte, und auch wenn er es nicht wollte, war da doch eine lautlose Stimme in ihm, die ihn fragte, ob der abtrünnige Gott nicht doch recht gehabt hatte. Was fingen die meisten dieser Sterblichen eigentlich mit ihrer viel gepriesenen Freiheit an – außer in ihrem Namen, aber ganz gewiss nicht für sie zu sterben? Statt irgendetwas davon auszusprechen, fragte er: »Wie geht es Abu Dun?«
»Eurem Freund?« Rogers betonte das Wort sonderbar, fand
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