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Götterfall

Götterfall

Titel: Götterfall
Autoren: Sandra Lüpkes
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Wasserfall mit seinen Regenbögen. Zwei Stück übereinander, weil gerade die Sonne draufschien.
    [17. Juni, 10.29 Uhr, Goðafoss , Þingeyjarsveit, Island]
    Silvie stand auf dem Felsen, schlug sich die Hände vor das Gesicht und schrie dermaßen schrill, dass sie alle von dieser Tonhöhe wie gelähmt waren.
    Auch Wencke. Mein Gott, Hüffart hatte … er war … sie wusste nicht genau, wie das passieren konnte, hatte nichts mitbekommen, plötzlich war Karl Hüffart über die Klippen gefahren und in die Tiefe gestürzt. Seitdem kreischte Silvie. »Er ist einfach so … losgefahren … ich … habe ihn nicht … halten können!«
    Doch irgendein Instinkt löste Wencke aus ihrer Erstarrung. Bevor sie sich selbst klar darüber wurde, was sie gerade tat, rannte sie bereits und hatte nur noch eines im Visier: diese scharfe, glatte Metallklinge an Lenas Hals. Jarle war nur für den Bruchteil eines Augenblicks abgelenkt gewesen, und das hatte Wencke gespürt oder gewusst oder geahnt, jedenfalls bot sich nur dieser eine entscheidende Augenblick, in dem sich ein Mann wie Jarle überrumpeln ließ. Genau jetzt!
    Sie konnte kaum gezielt und mit Bedacht vorgehen, diese Zeit blieb nicht. Darum trat Wencke mit voller Gewalt gegen die Hand, die das Messer hielt, um sie wegzuschießen wie einen Fußball, weg von Lenas Hals, von der Haut, unter der man so vieles zerstören konnte. Es konnte auch sein, dass sie nicht traf, dass sie Jarle nur reizte, zuzustechen, denn er war zu allem entschlossen.
    Doch sie traf. Das Messer löste sich aus Jarles Hand, die sich im Schock geöffnet hatte, und flog im hohen Bogen dorthin, wo es niemand je wieder zurückbekommen würde.
    Jarle war durch den heftigen Tritt nach hinten gefallen, er fing sich nur halbwegs auf und krachte mit dem Rücken auf einen spitz aufragenden Felsen. Der plötzliche Schmerz betäubte ihn und irgendjemand  – wahrscheinlich war es Urbich, aber so sicher konnte sich Wencke nicht sein, dazu war sie zu fertig –, irgendjemand setzte den am Boden Liegenden außer Gefecht. Wie auch immer, es interessierte Wencke nicht, sie schaute nicht danach, Jarle Yngvisson war besiegt – und sein Schicksal war ihr in diesem Moment so was von egal.
    Es dauerte, bis sie sich wieder fing, bis sich das Adrenalin abbaute, das Herz zu hämmern aufhörte und der Rest des Körpers nicht mehr auf Hochtouren lief. Das fühlte sich fast noch schlimmer an als die Panik davor, wenn alles allmählich in den Normalzustand zurückfährt. Wie von innen ausgehöhlt saß Wencke an der Kante, ihre Beine baumelten über dem Abgrund.Sie hatte die Schuhe ausgezogen und genoss es, dass kleine, eiskalte Tropfen gegen ihre Fußsohlen sprangen. Wie gut, wenn sie das spürte, dann war sie dabei, wieder zu sich zu kommen.
    Lena hatte ihren Kopf in Wenckes Schoß gebettet und weinte. Kleine, rechteckige Papierstücke wehten über sie hinweg, flatterten über den Rand, segelten erst langsam tiefer, bis sie vom Strom des Götterfalls erfasst und davongerissen wurden. Drei Millionen. Na und?
    Der Rollstuhl tauchte nur ein einziges Mal auf. Und auch nur die Rückseite. Er überwand eine letzte Stufe im Fluss, kippte vornüber, dann zogen ihn abertausend Liter Gletscherwasser mit sich. Eine schnelle Reise. Nicht weit da hinten wartete das Meer.

Verðandi
    [16. Juli, 9.23 Uhr, Stadtfriedhof, Stöckener Straße, Hannover,
    Deutschland]
    Wencke stand unter dem rot geklinkerten Torbogen, da es schon seit Stunden regnete wie aus Kübeln und man nur hier einigermaßen trockene Füße behielt.
    Götze und Lena stiegen gemeinsam aus der giftgrünen Stadtbahnlinie 5 und liefen mit großzügigem Abstand auf die Friedhofskapelle zu. Dass sie überhaupt in der Lage waren, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, hatten sie einem engagierten Verteidiger zu verdanken, der dafür gesorgt hatte, dass Vater und Tochter trotz des Vorwurfs der Freiheitsberaubung undräuberischer Erpressung vorerst auf freiem Fuß blieben und bis zur Verhandlung zurück nach Deutschland reisen durften. Beide waren gewillt, die Distanz zueinander abzubauen, da war Wencke sich sicher, doch für eine solche Annäherung brauchte man vor allem Geduld. Nach einem Monat Kennenlernphase war eine gewisse Reserviertheit völlig normal. Und wie es von nun an weitergehen würde – jetzt, wo über Götzes Schuld und Bewährung ganz neu verhandelt werden musste –, das stand in den Sternen.
    Immerhin gab es Gemeinsamkeiten zwischen den beiden, das aufbrausende
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