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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung
Autoren: Sven Böttcher
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Platz.
    Quer durch alle Epochen mühten sich Wissenschaftler aller Herren Länder eifrig, das zerwirbelte, aufgewühlte System wieder in jene eckige Form zu quetschen, die es vor dem Sturm gehabt hatte. Verbissen überschütteten sie die Menschheit mit Tonnen akademischer Theorien und Erklärungen für das, was vorgefallen war, aber nur die dümmsten Pinsel fielen auf ihre zweitklassigen Taschenspielertricks herein. Andere hatten ihre Lehren aus der Erfahrung gezogen, die sie gemacht hatten – auch wenn Wissenschaftler und Religionsführer bestritten, dass sie diese Erfahrung überhaupt gemacht haben
konnten
 –, und manche der Belehrten mühten sich nach Kräften, diese neue Erkenntnis zum Wohle der übrigen Kohlenstoffeinheiten zu nutzen und zu verbreiten.
    Oberflächlich betrachtet war nichts geschehen.
    Wer tiefer blickte, hinab ins Wesentliche, sah die Veränderung.
    Von Beginn an.
     
    Cameron saß in einem breiten Plüschsessel und verfolgte das Treiben der Familie Vanderhof auf der Leinwand. Als die Schlussszene von
You Can’t Take It with You
über die Leinwand flackerte und Großvater Vanderhof und der alte Kirby den
Polly Wolly Doodle
in ihre Mundharmonikas bliesen, biss er sich sacht auf die Unterlippe und wischte verstohlen eine Träne aus seinem Augenwinkel.
    Vor ihm saßen ein junges Mädchen und ihr Freund und kauten sich in den Gesichtern herum. Cameron sah verstohlen nach rechts. Der dicke Mann mit der glänzenden Halbglatze starrte ungerührt auf die Leinwand. Cameron sah nach links. Die junge Dame mit dem schmalen Gesicht betupfte sich die Wangen mit einem schwarzen Seidentuch. Sie bemerkte ihn und hielt inne. Binnen Sekundenbruchteilen fällte der Mann mit dem Hut, der Fremden gegenüber grundsätzlich nicht viel weicher auftrat als ein Eisenträger, eine schwerwiegende Entscheidung. Eine Entscheidung, die jeden Großrechner Wochen gekostet hätte.
    Er lächelte.
     
    Als Erasmus das Knarren der Treppenstufen hörte, legte er die Zeitung mit der dicken Schlagzeile «Dramatische Umsatzeinbußen bei Apfelbauern» beiseite, hörte auf, Baals großen Kopf zu streicheln, und begleitete den Weg seiner Frau mit warmen Blicken. Diana hockte sich neben ihn auf den Holzboden und küsste ihn zärtlich auf die Wange.
    «Na», sagte sie.
    «Na», sagte er.
    «Manchmal», sagte er und strich ihr sanft über die Haare, «denke ich an diese Berge. Manchmal … wüsste ich gern, was sich dahinter verbirgt.»
    «Das haben sich schon viele gefragt.»
    «Eben. Und wenn wir es wüssten?»
    «Wäre das Leben ein bisschen langweiliger. Du, Erasmus …?»
    «Der Sage nach», fuhr Erasmus versonnen fort, «wölbt sich nach Ragnarök, der Götterdämmerung, ein neuer Himmel über der blauen Erde, und oben thront herrlich die Burg der Götter. Dort leben sie frei von Schuld und sprechen von den vergangenen Dingen. Außer ihnen sind nur zwei Menschen übrig geblieben, Líf und Lífthrasir …»
    «Erasmus …»
    «… von denen das neue Menschengeschlecht abstammt, das bald die ganze Erde bevölkern wird.»
    «Erasmus.»
    «Wie? Verzeihung. Ja?»
    «Es … wird bald noch einen Weinberger geben.»
    Nach einer langen Pause sagte er: «Bist du sicher?»
    «Ja, Liebling.»
    Erasmus küsste sie sanft auf die Stirn. Dann sprang er aus dem Sessel und stolperte durch den unordentlichen Raum zu einem der hohen Regale.
    «Meine Güte, was ist denn jetzt?», fragte Diana.
    «Ich suche ein Buch.»
    Erasmus fegte einige Exemplare auf den Boden. Baal ging hinter dem Schreibtisch in Deckung. «Hab ich mal ganz billig gekauft, im Antiquariat, wo ist denn … da!» Er riss das Buch heraus, blätterte neugierig und sah auf.
    «Hast du Stricknadeln?»
    «Was? Ja, hab ich, aber …»
    «Leihst du mir die?»
    Diana nickte. «Wieso?»
    «Ich», sagte Erasmus feierlich, «stricke dem dritten Weinberger einen Anzug! Einen kleinen, gemütlichen Anzug … mit bunten Bommeln und so was. Und weich muss er sein.»
    «Weich?»
    «Weich. Nicht schlapp und schlottrig, aber schön weich.»
    «Na gut», sagte Diana nickend. «Wie du meinst. Aber nur
weich
und
mit bunten Bommeln
genügt nicht.»
    «Was meinst du?»
    «Er sollte praktisch sein. Das heißt, er sollte möglichst fünf Löcher haben. Eins für den Kopf und jeweils zwei für Arme und Beine.»
    «Oh», sagte Erasmus. «Ja, das stimmt wohl. Ich versuche, dran zu denken.»
    «Wir können das ja zusammen in Angriff nehmen.»
    «Das», sagte Erasmus und sah strahlend auf, «ist
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