Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gnadenlose Gedanken (German Edition)

Gnadenlose Gedanken (German Edition)

Titel: Gnadenlose Gedanken (German Edition)
Autoren: Peter Wagner
Vom Netzwerk:
einmal die Chance, mit einem Irren zu sprechen? Ich meinte nicht solche Irren wie meine Oma, die der Meinung war, ich sei ihr im Krieg gefallener Bruder, sondern jene Wahnsinnige, die mir versicherten, dass Lenin im Begriff war, unser aller Leben auszulöschen.
    Ein Mann von vielleicht vierzig Jahren versuchte tatsächlich mich zu überreden, in seine Partei einzutreten, die da hieß: „Partei zur Verhinderung des Weltunterganges“, kurz PVW. Er hatte es sich zum Lebensziel gemacht, die Welt zu retten. Ich konnte allerdings nie herausfinden, wovon die Bedrohung ausging. Das wechselte von Besuch zu Besuch. Einmal waren es die Chinesen, die in ihren Radios und Fernsehgeräten heimlich Überwachungschips eingebaut hatten. Diese Chips seien in der Lage, den Chinesen alle Informationen zu übermitteln, die sie zur Erlangung der Weltherrschaft benötigten.
    Aber auch die Affen waren sehr gefährlich. Sie waren in Wahrheit verkleidete Außerirdische, die in unseren Zoos lebten, um uns Erdbewohner zu studieren.
    Die Gespräche mit diesem Mann waren immer sehr interessant gewesen, und er hatte in mir einen dankbaren Zuhörer gefunden. Das war für mich dann das Traurigste an dem Tod meiner Oma gewesen; dass ich keinen Grund mehr hatte, diesen Verrückten im Aufenthaltsraum der Irrenanstalt besuchen zu können.

    Auf jeden Fall hatte ich nie herausfinden können, wie sich ein Wahnsinniger wirklich fühlte. Sie schienen aber fast immer glücklich zu sein. Doch war das für mich Grund genug, selber verrückt zu werden? Wohl kaum!
    Aber möglicherweise war ich überhaupt nicht verrückt. Vielleicht gab es ja doch einen siebten Sinn? Warum nicht? Schließlich wollten die Menschen vor hundertfünfzig Jahren auch noch nicht glauben, dass ein Mensch in der Lage sei, fliegen zu können wie ein Vogel. Und heute flogen die Menschen rund um die Erde, die übrigens
doch
keine Scheibe war!
    Klar, das Phänomen des Gedankenlesens existierte. Oder doch nicht? Ich musste es herausfinden. Und das schnell, bevor ich doch noch ein Parteibruder meines Freundes aus der Klapsmühle werden würde.

    Es gab nur eine Möglichkeit, herauszufinden, ob ich nun verrückt, oder übersinnlich begabt, war. Ich musste meine Fähigkeit testen. So läuft das in der Wissenschaft. Wenn du eine These aufstellst, musst du sie durch Experimente verifizieren. Also beschloss ich meine zweite Solofahrt zu starten; sofort nach dem Essen sollte es losrollen.

    Manfred hatte mich erneut erstaunt angesehen, als ich ihm beim Essen von meinen Plänen für den Nachmittag berichtete, aber auch dieses Mal kommentierte er diese Mitteilung nicht weiter. Er fragte mich lediglich, ob er während meiner Abwesenheit in den Buchladen gehen könne, wo er sich das letzte Werk seines bevorzugten Genies besorgen wollte. Ein Genie, dessen Namen ich mir nie merken konnte. Ich glaubte, außer Manfred las auch kein Schwein seine Bücher.
    Also verließen wir beide das Haus, er Richtung Buchladen, und ich Richtung Wahrheitsfindung. Ich wusste noch nicht, wo ich diese Wahrheit finden sollte, ich fuhr einfach los.

    Als ich etwa eine halbe Stunde durch die Stadt gerollt war, kam ich zum Kennedy-Platz. Es war ein bunter Ort, ein Treffpunkt für alle Bewohner dieser Stadt. Egal, ob jung oder alt, ob arm oder reich, hier trafen sich alle Menschen. Aber nicht miteinander! Die jeweiligen Gruppen waren sehr darauf bedacht, keine Fremde in ihre Mitte zu lassen.

    Da waren junge Mütter, die ihre Kinderwagen nebeneinander her schoben, und die neuesten Sonderangebote für Wegwerfwindeln austauschten. Da waren Schulkinder, die ihre Schultaschen, die natürlich alle von demselben Hersteller stammen mussten, als Fußbälle missbrauchten. Da waren Jugendliche, die stolz und hustend ihre ersten öffentlichen Zigaretten pafften. Da waren verschwitze Bauarbeiter, deren Rücken von der Sonne verbrannt waren, die sich über die verfehlte Einkaufspolitik ihres Fußballvereins aufregten. Da waren Abiturienten, die ein Wirtschaftsmagazin und ein Comic in ihren Aktenkoffern mit Zahlenschloss trugen. Da waren Hausfrauen, die mit prallgefüllten Einkaufstaschen über den Platz hetzten, verängstigt darum bemüht, das Essen auf dem Tisch zu haben, bevor der Alte von der Arbeit zurückkam. Da waren Neonazis, deren ausländerfeindliches Gegröle dank übermäßigen Bierkonsums unverständlich blieb. Da waren alte türkische Männer, die über den Platz schlenderten, eine Holzkette durch ihre Finger gleiten ließen, und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher