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Gnadenlose Gedanken (German Edition)

Gnadenlose Gedanken (German Edition)

Titel: Gnadenlose Gedanken (German Edition)
Autoren: Peter Wagner
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Pokale hätte ich nicht überleben können. Meine Mutter ließ sie alle verschwinden.

    Ansonsten sah mein Zimmer so aus, wie ich es auf zwei Beinen verlassen hatte. Sogar meine Sporttasche und meine Hanteln lagen noch auf der Kommode. Über meinem Bett hing immer noch das Bild eines Delphines. Wenn ich im Wasser schwamm, und sich Krämpfe ankündigten, hatte ich immer versucht, mich wie ein Delphin zu fühlen. Manchmal hatte es sogar funktioniert. Andere junge Leute hatten Nelson Mandela oder Lionel Messi als Vorbilder, mein Idol war ein Delphin. Für mich war ein Delphin stets das Symbol für Schnelligkeit, gepaart mit Eleganz, gewesen. Diese intelligenten Säugetiere glitten durch das Wasser wie ein nasses Stück Seife durch die Hand eines Badenden. Sie schienen niemals müde zu werden und waren selbst ihren gefährlichsten Gegnern überlegen. Dabei sahen sie stets so locker und gutgelaunt aus, als ob das Leben ein einziges Planschen und Toben sei. Diese Lockerheit versuchte ich auch während den Wettkämpfen zu erreichen, manchmal gelang es mir auch. An diesen Tagen schien ich tatsächlich unschlagbar zu sein.

    Auch jetzt sah ich zu dem Bild auf, allerdings konnte es mir heute nicht mehr weiterhelfen. Niemand konnte mir helfen, ich musste mit meiner Situation alleine klarkommen. Ich war ein querschnittsgelähmter Krüppel im Rollstuhl, der scheinbar die Gedanken anderer Menschen lesen konnte. Na prima!

    Oder war ich nur ein querschnittsgelähmter Krüppel im Rollstuhl, der langsam verrückt wurde? Eine interessante Frage, über die es sich lohnte, näher nachzudenken.
    Ich hatte keine Ahnung, wie man den Irrsinn erkennen konnte, wenn er sich einstellte. Ich hatte allerdings auch keine Ahnung gehabt, wie es sich anfühlte, wenn man in einem Rollstuhl saß. Heute wusste ich, dass es sich, - vor allen Dingen vom Bauch an abwärts- sehr taub anfühlte. Man fühlte sich, als lebte man in einem großen Berg aus Watte. Alles schien so weit weg zu sein, und so verschwommen.
    Es war einfach ein Scheißgefühl.

    Meine Oma hatte die letzten Jahre ihres Lebens in einer Irrenanstalt verbracht. Meine Eltern nannten es „Psychiatrische Klinik“, doch ich dachte, dass es letztendlich unwichtig war, wie man so ein Haus nannte. Meinen Eltern gelang es ein paar Mal, mich zu einem Besuch zu nötigen. Ich wollte nicht in ein Haus, das nach Omapisse und Desinfektionsmitteln stank. Ein Haus, in dem auch tagsüber die Türen verschlossen wurden, und nur die Krankenschwestern die Schlüssel in ihren Kitteltaschen aufbewahrten.
    Meine Oma hatte nach dem Tod meines Opas alleine in ihrem großen, alten Haus gewohnt. Dies hatte auch wunderbar funktioniert, bis sie eines Tages begann, ihre eigene Scheiße zu fressen. Die Putzfrau, die ihr zweimal in der Woche half, fand sie eines Tages, wie sie in der Waschküche saß, und sich die Scheiße in ihren zahnlosen Mund stopfte, als sei es Schokolade. Völlig außer sich hatte die Putzfrau meinen Vater verständigt, und seitdem hatte meine Oma in dem Irrenhaus gelebt. Dort war sie unter ständiger Aufsicht gewesen und mit diversen Medikamenten ruhiggestellt worden. Um sich die Zeit zu vertreiben, bis meine Oma endlich das Erbe freigeben würde, besuchten meine Eltern sie jeden Sonntag. Natürlich hatten sie ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht bei ihnen lebte. Aber sie wischten es weg, mit der Entschuldigung, dass es aus beruflichen und familiären Gründen nicht möglich war. Wie diese Gründe im Konkreten aussahen, hatte ich nie erfahren können. Meine Eltern hatten aber auch keine großen Anstrengungen gemacht, sie mir zu erläutern.
    An manchen Sonntagen gelang mir nicht die Flucht, und so musste ich meine Eltern begleiten. Dabei interessierte ich mich weniger für meine Großmutter, die ich schon nicht hatte leiden können, als sie noch wusste, wer ich war. Vielmehr interessierte ich mich für ihre Mitbewohner. Dabei machte ich eine wichtige Entdeckung. Kaum ein Irrer schien mit dem Leben hinter verschlossenen Türen unglücklich zu sein. Die meisten Patienten lächelten ständig und murrten nur, wenn es eine Schwester einmal wagte, den Fernseher auszuschalten. Entweder wirkten die Pillen aufheiternd, oder aber es war lustig, verrückt zu sein.
    Jene, die noch einigermaßen klar und verständlich reden konnten, versicherten jedem, der es hören wollte, dass es nichts Schöneres für sie gab, als in diesem „wunderbaren Haus“ zu leben. Und ich wollte es hören! Wann hatte man schon
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