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Gnadenlose Gedanken (German Edition)

Gnadenlose Gedanken (German Edition)

Titel: Gnadenlose Gedanken (German Edition)
Autoren: Peter Wagner
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Sie sagen ihren kleinen Gören, dass sie weitergehen sollen, und dass sie nicht so dumme Fragen stellen sollen. Wenn man als Rollstuhlfahrer unterwegs ist, dann wagt man es kaum stehen zu bleiben. Auch wenn die Arme noch so schmerzen, und die Hände wie Feuer brennen, man fährt immer weiter. Ahnst du, warum? Nein, das tust du nicht! Weil, wenn man stehen bleibt, denken die Menschen, man würde betteln! Sie werfen dir Münzen in den Schoß, und rennen dann schnell weiter, bevor du sie auch nur ansehen kannst! Ahnst du, wie schrecklich dieses Gefühl ist? Also lass mich in Ruhe mit deinem Gelaber und mach deinen Job! Ich muss mal scheißen, und ich hoffe sehr, dass ich Durchfall habe. Ich genieße es manchmal, wenn du mir den Hintern abwischen musst. Die Vorstellung, dass du dich bis zum Brechreiz ekeln könntest, macht mir mehr Spaß, als mit irgendwelchen Beinamputierten um die Wette zu schwimmen. Also komm endlich, bevor ich mir in die Hosen mache!“

    Es war natürlich ungerecht gewesen, so mit Manfred zu reden. Er war ein wirklich guter Pfleger. Er war stets bemüht, solche Dinge wie Baden, oder mich aufs Klo zu setzen, so diskret wie möglich zu gestalten. Klar, es war ihm unangenehm, aber er ahnte wohl auch, wie unangenehm es mir erst war. Ich schämte mich dann immer so. Früher hätte ich in einer öffentlichen Toilette niemals aufs Klo gehen können, aus Angst, jemand könnte auch nur Ohrenzeuge werden, wie ich ein großes Geschäft erledigte. Selbst beim Pinkeln hatte ich meine Probleme gehabt.
    Und heute saß ich auf dem Klo, und Manfred musste mich festhalten, damit ich nicht in die Schüssel fiel.
    In der Reha-Klinik war es noch schlimmer gewesen. Dort hatte ich immer nach einer Schwester rufen müssen. Und jedes Mal war es eine andere gewesen. Anfangs hatte ich es geschafft, die Scheiße über eine Woche einzuhalten. Das war natürlich sehr dämlich gewesen, denn dann hatte ich natürlich erstrecht Schwierigkeiten mit der Verdauung gehabt. Und die meisten Schwestern hatten sich keineswegs so diskret wie Manfred verhalten. Eine hatte sich noch nicht einmal gescheut, bewundernd meinen Penis anzufassen, mit der Bemerkung, das sei aber ein besonders riesiges Gerät. Damals hatte ich mich wie eine Nutte gefühlt, und als sie endlich mein Zimmer verlassen hatte, weinte ich wie ein kleiner Säugling, der seit Tagen kein Fläschchen mehr bekommen hatte.

    Manfred machte seinen Job wirklich sehr gut, er hatte es nicht verdient, so von mir behandelt zu werden. Aber auch das ertrug er mit großer Geduld. Oft fragte ich mich, wie er das schaffte. Ich war ihm eigentlich sehr dankbar dafür, dass er sich um mich kümmerte. Wenn ich ihn nicht gehabt hätte, dann hätte ich wohl bei meinen Eltern leben müssen. Und was die davon hielten, ein Familienmitglied zu pflegen, hatte ich ja schon erlebt, als meine Oma ihren Verstand verloren hatte. Möglicherweise hätten sie mich auch in ein Heim gesteckt, in dem Glauben, dort sei ich gut aufgehoben.
    Manfred war der einzige Mensch, mit dem ich wirklich Kontakt hatte. Die Freunde von früher hatten sich schon seit langer Zeit nicht mehr blicken lassen, was ich ihnen auch nicht verübeln konnte. Seit meinem Unfall war ich ein ziemliches Arschloch geworden, dessen war ich mir durchaus bewusst. Aber manchmal ist es nicht leicht, über seinen eigenen Schatten zu springen. Man kannte zwar seine Fehler, man wollte sie auch gerne abstellen, aber es gelang nur selten.
    Vielleicht war Manfred deshalb so geduldig, weil er wusste, dass er diesen Job nicht für ewig machen würde. Er plante ein Philosophiestudium zu beginnen, er wollte nicht sein Leben lang Krankenpfleger bleiben.
    Möglicherweise war das sein Geheimnis. Man konnte so einiges ertragen, wenn man wusste, dass es irgendwann einmal vorüber sein würde. Wenn ich wüsste, dass ich in einem Jahr aus meinem Rollstuhl aufstehen könnte, würde ich mir keine großen Gedanken machen. Schade um das verlorene Jahr, aber was soll`s? Doch ich würde nie aus diesem Höllengerät aufstehen können, nicht in einem Jahr, und auch nicht in fünfzig Jahren. Wenn ich einmal sterben werde, dann werden sie meinen Arsch vom Stuhl schweißen müssen, so sehr werde ich mit ihm verwachsen sein. Oder ich werde der erste Mensch sein, der auf einem Schrottplatz seine letzte Ruhestätte finden wird.

    Heute Abend wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass Manfred eines Tages einmal gehen würde. Über dieses Thema hatte ich bisher noch nie nachgedacht.
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