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Gnadenlose Gedanken (German Edition)

Gnadenlose Gedanken (German Edition)

Titel: Gnadenlose Gedanken (German Edition)
Autoren: Peter Wagner
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ein Gebrechen mehr.
    Nein. Dieses Mal sollte ich gar nicht mehr auftauchen. Erst die Wasserratten sollten mich finden und vernaschen. Man durfte mich erst dann entdecken, wenn überhaupt keine Chance mehr bestand, dass man noch irgendeinen Teil meines Körpers wieder zum Leben erwecken könnte. Ich hatte nicht vor, als Krüppel ins Wasser zu springen, und als Vollkrüppel wieder herauszukommen. Das hier war eigentlich als endgültig gedacht. Als Schlussakt.

    Ich zog den Rest meines Körpers hoch. Es gelang mir tatsächlich, ein Bein über die Brüstung zu legen. Nun musste ich das zweite nur noch nachziehen, und schon würde ich sitzen. Zwar musste ich mich sehr gut festhalten, und ich wackelte wie ein besoffener Penner nach zwei Flaschen Wodka, aber ich saß. Wenn das mein Manfred gesehen hätte! Er hatte immer wieder versucht, mich zu mehr Eigenständigkeit zu treiben. Nun hatte ich es geschafft, ohne fremde Hilfe so ein Kunststück zu vollbringen. Kaum zu glauben, dass ich ohne fremde Hilfe nicht aufs Klo gehen konnte.
    Ich hatte mich wohl auch ganz wohl gefühlt, in meinem Selbstmitleid. Ich hätte viel mehr alleine schaffen können. Doch diese Einsicht kam zu spät. Lange würde ich mich nicht mehr halten können, dann würden die Gesetze der Physik ihren Teil beitragen. Sie würden mich nach unten ziehen, zum Wasser. Schließlich war es doch genau das, was ich wollte. In den Fluss springen. Hier sollte es enden. Hier, wo alles begonnen hatte.

    [Hier sollte es enden. Hier, wo alles begonnen hatte.]
    Der Rattenmann wollte sich für
immer
verkriechen! Jesus war entsetzt! Das konnte er ihm doch nicht antun! Er brauchte ihn doch! Er brauchte sein Blut, brauchte sein Fleisch. Er brauchte seine Macht! Das konnte er ihm doch nicht antun! Tränen der Verzweifelung schossen Jesus in die Augen. Er geriet in Panik und hatte große Angst, er könnte zu spät kommen. Er erhöhte die Geschwindigkeit, für seine Beine war es kein Problem, die 200 Kilo Knochen, Muskeln und Sehnen auch in einem schnelleren Tempo zu tragen. Sie waren diese Last gewöhnt.

    In der Ferne konnte er die Brücke erkennen. ER hatte ihm wieder einmal den richtigen Weg gewiesen. Auf IHN konnte er sich immer verlassen, ER hatte ihn noch nie im Stich gelassen.
    Er erreichte die Brücke, und er konnte, auf etwa ihrer Mitte, eine Gestalt erkennen, die auf der Brüstung zu sitzen schien. Das musste er sein!
    [Spring nicht!], dachte er flehend.

    [Spring nicht!], schrie es plötzlich in meinem Ohr.
    Wer störte mich denn jetzt schon wieder? Konnte ich denn noch nicht einmal in Ruhe sterben? Warum musste ich denn immer wieder diese fremden Gedanken lesen? Sie interessierten mich nicht, sie widerten mich an. Ich drehte meinen Kopf und dann sah ich ihn! Der Koloss kam auf mich zu gerannt. Er sah aus, wie ein Reisender, der befürchtete, seinen Zug zu verpassen. Es schien ihm wirklich sehr wichtig zu sein, mich zu erreichen. Warum? Wusste er denn nicht, dass ich springen wollte? Wusste er denn nicht,
warum
ich springen wollte? Ich war doch gerade im Begriff, genau das zu tun, was er die letzten Wochen so dringend gewollt hatte! Ich wollte mich doch töten! Warum wollte er mich denn plötzlich davon abhalten? Hatte er seine soziale Ader entdeckt? Oder musste er mir noch dringend irgendwelchen klugen Ratschläge mit auf dem Weg geben? Was wollte der Kerl denn noch von mir? Er hatte mir meinen allerletzten Funken Lebenswillen geraubt, er hatte einen Menschen massakriert, in den ich mich hoffnungslos verliebt hatte. Jetzt wollte er mir auch noch meinen Abgang vermiesen?!

    Mir reichte es! Ich hatte die Schnauze voll! Gestrichen voll! Ich konnte dieses Arschloch nicht mehr ertragen. Ich hätte einfach loslassen sollen. Sobald ich die Brüstung losließe, wäre ich doch auch alle meine Sorgen los. Aber so einfach wollte ich es ihm dann
doch
nicht machen! Ich beschloss, noch einen Augenblick mit dem Springen zu warten.

    Der Koloss war jetzt bereits so nahe, dass er mein Zögern erkennen konnte. Ein erleichtertes Lächeln breitete sich in seinem Breitbandgesicht aus, und seine Augen funkelten zufrieden. Habe ich dich doch noch erwischt, schien dieses Gesicht zu sagen.

    „Wenn du springst, war alles umsonst!“, gestand er mir offen seine Ängste ein.

    Ich dachte nach. Wenn ich jetzt wirklich springen würde, und meinem Leben ein Ende setzen würde, dann wäre
ich
der wahre Sieger dieses wahnsinnigen Spieles gewesen. Alles, wofür der Koloss die letzten Wochen gelebt
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