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Gnadenlose Gedanken (German Edition)

Gnadenlose Gedanken (German Edition)

Titel: Gnadenlose Gedanken (German Edition)
Autoren: Peter Wagner
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akzeptierte das. Schließlich war ER der HERR dieser Welt, und nur ER konnte wissen, was richtig und was falsch war. Und ER hatte es nun für richtig empfunden, die Rättin rasch zu töten und sich sofort auf den Weg in dieses Hotel zu machen.

    Er schaute sich noch einmal um, bevor er die Wohnung verließ. Das machte er immer, doch dieses Mal musste er nicht darauf achten, ob er irgendwelche Spuren hinterlassen hätte. Wenn er erst einmal den Rattenmann vernichtet hatte, würde er unbesiegbar sein. Dann konnten sie ihn ruhig finden. Bis sie sein Haus endlich gefunden hätten, war er vielleicht schon in SEIN Reich gefahren. Wenn er den Rollstuhlmann erlegt hatte, würde er der mächtigste Mann auf dieser Erde sein, denn er würde von seinem Blut trinken. Er würde ihn leertrinken. Er würde sein Fleisch essen. Er würde sich all seine Macht einverleiben.

    Jesus rannte die Treppe hinunter, er nahm sechs Stufen auf einmal.

    Ich musste natürlich den Aufzug nehmen, meine Wohnung befand sich im ersten Stock. Für einen Rollstuhlfahrer war das so hoch wie der Mount Everest, und selbst mit Sauerstoffmaske nicht zu bezwingen.

    Die Tür war nur angelehnt. Auf der Matte, die mir meine Mutter eines Tages mitgebracht hatte, („denn die Eingangstür ist die Visitenkarte des Wohnungsinhabers!“), war eine Schuhsohle abgebildet. Die Sohle war rot. Blutrot.

    „Veronika!“, schrie ich, aber ich erhielt keine Antwort.
    In diesem Moment wusste ich auch ohne Gedanken zu lesen, was mich hinter dieser Tür erwarten würde.

    Auch der Koloss antwortete nicht, und auch in diesem Fall war ich mir absolut sicher, dass er verschwunden war. Er lauerte nicht hinter der Tür, hatte sich nicht in meinem Kleiderschrank versteckt. Da hätte er sowieso nicht hineingepasst, doch daran dachte ich in diesem Augenblick nicht.

    Ich dachte an Veronika und an unser Gummiboot. Ich dachte an unseren ersten Kuss und an meinen ersten Orgasmus mit ihr. Ich dachte an ihre funkelnden Augen und wie einladend mir ihre Brustwarzen entgegengekommen waren, als wir auf dem kalten Meer uns gegenübergesessen hatten.
    Ich stieß die Tür auf. Da saß sie auf dem Boden vor der Garderobe. Ihrer Brustwarzen waren verschwunden, zusammen mit ihren Brüsten. Ihre Augen waren geöffnet, doch sie funkelten nicht mehr, sie hatten jeglichen Ausdruck verloren. Ihr ganzer Körper war zerschunden, und ihre Klamotten waren mit Blut durchtränkt. Die ursprünglichen Farben ihrer Kleidungsstücke konnte man beim besten Willen nicht mehr erkennen. Alles war rot.

    Es war ein Anblick, der mich sofort eine Entscheidung treffen ließ. Ich würde sterben. So schnell wie möglich. Den Entschluss, mich umzubringen, traf ich völlig emotionslos. Gefühle zu empfinden, dazu war ich einfach nicht mehr in der Lage. Ich konnte auch nicht mehr klar denken. Es war einfach eine logische Folge aus den Geschehnissen der vergangenen Wochen. Ich traf sie weder mit dem Kopf, noch aus dem Bauch heraus. Plötzlich war sie einfach da. Es fiel mir auch nicht besonders schwer, das zu akzeptieren. Auch die Art und der Ort meines Sterbens standen schon fest, lange bevor es mir klar wurde.

    Langsam drehte ich den Rollstuhl, die Reifen schmatzten vornehm, als sie durch die Blutlache fuhren.
    Zum letzten Mal verließ ich meine Wohnung.

24

    Wie lange stand ich nun schon auf der Brücke und schaute in den Fluss? Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren, ich hatte überhaupt keine Gefühle mehr. Ich stand nicht deshalb mit dem Rollstuhl an der Brüstung, weil mich etwa der Mut verlassen hätte. Ich war schon einmal von dieser Brücke gesprungen, und ich würde es gleich ein zweites Mal tun. Ich war im Moment nur einfach zu müde, mir fehlte die nötige Kraft. Also schaute ich auf das fließende Wasser und ließ in Gedanken mein kurzes Leben Revue passieren. Da es nicht vieles gab, was ich passieren lassen musste, dachte ich über die Zukunft nach. Nicht über meine, ich hatte keine mehr.

    Was würde Manfred machen, wenn er wieder gesund war, und zurückkehrte? Er würde wohl seinen Pflegerjob an den Nagel hängen, um endlich sein heißersehntes Philosophie-Studium aufzunehmen. Meine Eltern? Die würden sich noch weiter auseinanderleben, sofern dies noch möglich war. Meine Mutter würde einen neuen Pfarrer finden, dem sie zur Hand oder sonst wohin gehen konnte, und mein Alter würde noch mehr arbeiten, bis ihn endlich der dritte Infarkt erlösen würde.

    Der Koloss? Was würde aus ihm werden? Würde er
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