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Gnade

Gnade

Titel: Gnade
Autoren: Linn Ullmann
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Tisch haben, sagen Sie uns Bescheid!«
    Johan und Mai setzten sich an die Bar. Es war acht Uhr. Als es zehn Uhr war, sie immer noch keinen Tisch bekommen hatten und ihnen der Ober auch kein Zeichen machte, dass sie bald an der Reihe wären, sagte Johan, dass er gerne nach Hause gehen und auf dem Weg eine Wurst essen wollte.
    Â»Nein!«, sagte Mai.
    Â»Nein?«, sagte Johan.
    Â»Nein!«, sagte Mai. »Wir haben eine Abmachung, du und ich haben abgemacht, dass wir heute Abend hier essen. Das habe ich dir versprochen.«
    Johan schüttelte den Kopf, blieb noch zehn Minuten sitzen, stand dann aber auf und sagte, es sei nun genug. Mai blieb sitzen und starrte vor sich hin. »Ich warte«, sagte sie.
    Â»Ich warte. Ich werde heute Abend hier essen.«
    Daraufhin ging Johan. Später erzählte Mai, dass sie schließlich kurz vor Mitternacht einen Tisch bekommen und zur Verzweiflung der Bedienung ein viergängiges Menü bestellt hätte, das zur Erleichterung des Personals in Rekordzeit verspeist wurde.
    Kinderlos? Ja, und das hat sie selbst gewollt.
    Johan sah von dem Blatt auf.
    Manchmal, wenn Johan morgens nach einer heißen Dusche im Badezimmer stand, hauchte er den Spiegel ganz leicht an. Dann offenbarte sich in dem Glas ein
Gesicht, nicht sein eigenes Gesicht, aber ein Gesicht, das mit ihm zu tun hatte. Ein Gesicht, das er überall mit hin nahm.
    Johan beugte sich erneut über die Liste.
    Zufrieden? Zweifellos, dachte Johan.
    Mais Grundstimmung war eine leise, unerklärliche und unanfechtbare Zufriedenheit. Sie konnte genießen, was sie ein »kleines gutes Leben« nannte: ein gutes Essen, ein Glas kalten Weißwein, einen Spaziergang im Wald, Johans Hände, Johans Küsse. Vor vielen Jahren, als das Verhältnis zwischen ihnen noch frisch war, überraschte es ihn, welche Freude sie an seinem Körper hatte. Sie war hungrig und neugierig und wollte ständig mit ihm schlafen. Nach ein paar Jahren wurde ihm klar, dass es gar nicht um ihn gegangen war. Das heißt: Es war weniger um ihn gegangen als vielmehr um sie. Ihren Mund, ihren Hals, ihre Hände, ihre Brüste und ihr Geschlecht. Es war um Mais Freude an ihrem eigenen Körper gegangen und daran, wozu ihr Körper in der Begegnung mit anderen Körpern imstande war, welche Freuden möglich waren.
    Das letzte Wort auf Mais Liste war ehrlich, und Johan wusste, dass dies das Wort war, das gestrichen werden musste.
    Mai war überhaupt nicht ehrlich. Ganz im Gegenteil: Sie log häufig. Kleine sinnlose Lügen, die keine Rolle spielten, nicht von Bedeutung waren. Sie sprachen nicht darüber. Das heißt: Johan machte sie
nicht darauf aufmerksam, dass er um ihre Lügen wusste. Stolze Menschen darauf aufmerksam zu machen, dass man ihre Schwächen durchschaut hat, ist unangenehm. Als werfe man einen Stein nach einem Pfau, der einem in einem Moment des Vertrauens gerade seine hübschen Federn zeigt. Einen schwachen Menschen darauf aufmerksam zu machen, dass er schwach ist, kann hingegen richtig befriedigend sein.
    Alice, seine Frau Nummer eins, war schwach.
    Alice und ich waren einander ähnlich, pflegte Johan zu sagen. Wir haben uns gegenseitig gequält.
    Und was Mais Lügen anging, waren diese, wie gesagt, nicht von Bedeutung.
    An einem Abend vor langer Zeit fuhr Mai mit dem letzten Zug nach Göteborg. Sie war eingeladen worden, auf einer skandinavischen Kinderärztekonferenz einen Vortrag über Säuglinge und Koliken zu halten. Drei Tage ohne Mai, dachte Johan. Und es war nun einmal so, dass er den Gedanken, so lange von ihr getrennt zu sein, nicht ertragen konnte. Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, blieb er in der Wohnung zurück, die sie sich in der Jacob-Aalls-Gate teilten, und spielte auf dem Esstisch mit einer Rolle Nähgarn. Es war Freitagabend und er überlegte, ob er in ihr gemeinsames Ferienhaus nach Värmland fahren sollte. Es war besser, allein auf dem Land zu sein als hier in der Stadt. Dort hatte er wenigstens die Bäume zum
Reden. Er fummelte immer noch an dem Nähgarn herum. Laut sagte er zu sich:
    Â»Mai kann nähen.«
    Und dann noch lauter:
    Â»Alice konnte nicht nähen. Alice konnte mich nur beschimpfen. Und Geld zählen. Das konnte sie!«
    Er sah sich in der leeren Wohnung um. Er hatte den Eindruck, in der Ecke Gelächter zu hören.
    Â»Alice, bist du’s!«, zischte er. »Suchst du mich heim!« Er hörte das
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