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Gnade

Gnade

Titel: Gnade
Autoren: Linn Ullmann
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zu spüren, während es in Wahrheit Bindfäden regnete, dachte er: Sie hat sich in einen anderen verliebt! Mai betrügt mich!
    Doch dann fiel ihm auf, dass es keinen logischen Zusammenhang zwischen dem Wetter in Göteborg und einem potenziellen anderen Mann in Mais Leben gab. Eine Frau, schlussfolgerte er, ist bei Sonnenschein nicht weniger untreu als bei Regen.
    Johan fand auch nie eine Erklärung. Es war eine dumme Lüge. Weder die Wahrheit (dass es regnete) noch die Lüge (dass die Sonne schien) war verletzend, schädlich oder überhaupt nur relevant.
    Doch Fakt war und blieb: Mai log.
    Ihre Lügen waren, nachdem er auf sie aufmerksam geworden war, alle von der gleichen Qualität wie die Lüge hinsichtlich des Wetters, wenn man überhaupt von der Qualität einer Lüge sprechen konnte. Sie waren ohne Bedeutung. Es ist nicht gesagt, dass sie Johan überhaupt aufgefallen wären, wäre er nicht in Göteborg gewesen.
    Es kam zum Beispiel vor, dass sich Johan und Mai gegenseitig auf der Arbeit anriefen. Wenn Johan vor ihr aus dem Haus gegangen war, rief er sie gewöhnlich an und fragte, welche Kleider sie anhabe. Es war eine Art Spiel. Sie wusste, dass er sie gerne vor sich sah. Doch mehrmals stellte er fest, stets durch irgendeinen Zufall,
dass sie etwas völlig anderes trug als das, was sie ihm am Telefon beschrieben hatte. Sie behauptete zum Beispiel, dass sie ein blaues Kleid anhabe, wenn sie in Wirklichkeit rote Hosen trug. Solche Dinge.
    Aber sie log nicht immer.
    Als Mai achtunddreißig war, erzählte sie ihm, sie sei schwanger, habe sich aber dafür entschieden, abzutreiben. Sie habe das Angebot einer Fruchtwasseruntersuchung angenommen und die Untersuchung habe ergeben, dass der Fötus nicht gesund sei. Johan protestierte und sagte, dass sie das nicht allein entscheiden könne, sie müssten es wenigstens gemeinsam besprechen. In welchem Monat sie überhaupt sei?
    Â»In der vierzehnten Woche«, sagte sie und wandte sich ab.
    Später war er in eine Buchhandlung gegangen und hatte dort im Regal mit der Beschriftung »Mutter und Kind« ein Buch gefunden, das die Schwangerschaft der Frau Woche für Woche beschrieb. Er schlug die 14. Woche auf. »Das Herz des Fötus pumpt pro Tag achtundzwanzig Liter Blut durch den Körper«, stand dort.
    Achtundzwanzig Liter Blut.
    Er sah achtundzwanzig Milchtüten vor sich.
    Er sah ein Herz vor sich.
    Doch jetzt war er sprachlos und betrachtete Mais Rücken.

    Â»Mein Gott, Mai. Du hast überhaupt nichts gesagt. Ich habe überhaupt nichts gemerkt. Es ist jetzt sowieso zu spät, um noch abzutreiben. Du trägst ja schon ein Kind in dir.«
    Â»Es ist nicht zu spät.«
    Â»Es ist auch mein Kind «, versuchte er sich und fand nicht einmal, dass es hohl klang. Ich glaube, dass Johan in einem Anflug von Mut, der ihn hinterher sofort wieder verließ, das Kind wollte.
    Â»Du kannst nicht einfach sagen, dass ...«
    Â»Es ist mein Körper«, stieß sie hervor. »Außerdem ist es missgebildet. Wir haben etwas Missgebildetes geschaffen, Johan. Ich will es nicht zur Welt bringen. Es ist schade, aber es kommt nicht in Frage.«
    Johan sah sie an.
    Â»Du bist kalt, Mai.«
    Â»Ich bin nicht kalt. Verflucht noch mal, Johan!«
    Â»Es ist moralisch ... verwerflich, was du da tust. Du kannst nicht einfach ...«
    Â»Große Worte, Johan!«, zischte sie. »Große Worte. Lass uns über Dinge, die wir nicht begreifen, lieber leise sprechen.«
    Und dann begann sie zu weinen. Einen kurzen Moment lang erinnerte sie ihn an Alice, die häufig auf Tränen zurückgegriffen hatte, um eine Diskussion zu beenden.
    Â»Ich ertrage den Gedanken, es auszutragen, nicht. Ich ertrage es nicht«, schluchzte sie.

    Sie setzte sich auf den Boden, fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Und dann sagte sie, leise jetzt: »Und du konntest dich nicht einmal um ein Kind kümmern, das gesund war, Johan. Du konntest dich nicht einmal richtig um Andreas kümmern. Er war in Alices Verantwortung, und als Alice starb, war er allein auf der Welt. Ich will mit dir kein Kind in die Welt setzen. Nicht einmal ein gesundes, und erst recht nicht dieses kranke.«
    Es war ein Argument, dem er aus ersichtlichen Gründen nichts entgegensetzen konnte. Ein kleines höhnisches Lächeln jedes Mal, wenn sein einziger Sohn das Wort Papa in den Mund nahm. Mai wusste, was sie sagen
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