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Glückskind (German Edition)

Glückskind (German Edition)

Titel: Glückskind (German Edition)
Autoren: Steven Uhly
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läutet, draußen steht der Mann vom Paketdienst, um die Post mitzunehmen, es ist vier Uhr. Herr Wenzel gibt ihm Päckchen und Briefe, Hans’ Weiterbewilligungsantrag ist auch darunter. Als der Mann in seinem gelben Lieferwagen wieder davonfährt, lässt Herr Wenzel den Laden geöffnet. Er geht zurück ins Hinterzimmer und sagt zu Hans: »Ich werde dir helfen, so gut ich kann. Aber ich bin ein alter Mann. Du wirst dir mehr Leute suchen müssen.«
    Hans nickt. Er steht auf, er dankt Herrn Wenzel, ohne ihm in die Augen zu blicken, sein Gefühlsausbruch ist ihm jetzt peinlich. Dann verlässt er den Laden und überquert die Straße, um nach Hause zu gehen.
    An diesem Abend gibt Hans Felizia noch das Fläschchen. Anschließend wickelt er sie. Nachdem er das schlafende Kind auf sein Bett gelegt hat, betritt er das Badezimmer, schaltet das Licht ein und schaut in den Spiegel. Er starrt sich an, wie man einen Fremden anstarrt, der unvermutet in der eigenen Wohnung auftaucht. Dann muss Hans lachen. Er lacht aus reiner Heiterkeit, wie er es schon lange nicht mehr getan hat. »Ich sehe aus wie Karl Marx!«, ruft er dem Spiegel zu. Sein Bart ist wirklich so lang und buschig, so kraus und grau wie der des Philosophen. »Und dabei war ich schon kurz davor, zur NPD zu gehen, damit die mir beim Ausfüllen der Anträge hilft!«, gluckst er vergnügt. Was die wohl für Augen gemacht hätten, wenn der große Marx mit einem Hartz-IV-Antrag zu ihnen gekommen wäre, stinkend und schmutzig wie ein Penner? Er malt sich die Szene aus und findet immer mehr Gefallen daran. Dann sucht er seine Nagelschere, und obwohl die eigentlich viel zu klein ist für den großen Bart, beginnt er ihn zu stutzen, langsam und methodisch, wie jemand, der viel Zeit hat. Ja, ich hab Zeit, denkt er plötzlich und spürt, dass er sich zum ersten Mal zu Hause fühlt in seiner Wohnung. Wie erstaunlich die Dinge sind, denkt er, während er schneidet und sein Spiegelbild sich langsam verändert. Da findet man ein Baby im Müll und schon ist das Leben ganz anders. Bei diesem Gedanken werden seine Augen wieder feucht, aber er will jetzt nicht traurig sein, es geht ihm doch gut, zum ersten Mal seit einer Ewigkeit. Büschel für Büschel landet sein Bart im Waschbecken und bildet dort einen schmutzig grauen Haarberg. Als der Bart endlich kurz genug ist, nimmt er seinen elektrischen Rasierapparat, der noch voller Haare vom Vorjahr ist, säubert ihn und rasiert sich glatt. Dann ist Hans fertig. Er steht vor dem Spiegel und sieht neugierig hinein, als begegne er einem lange vermissten Freund wieder.
    »So schlecht schaust du gar nicht aus!«, ruft er seinem Spiegelbild zu. Zumindest, denkt er, sieht man mir meine neunundfünfzig Jahre nicht an. Er überlegt und fährt sich dabei mit Daumen und Zeigefinger über das Kinn. »Du könntest glatt für fünfund-fünfzigeinhalb durchgehen!«, sagt er dann gönnerhaft und lacht. Und nun? Hans betrachtet kritisch sein Haar. Es ist lang und fettig, das ungepflegte Haar eines Mannes, der sich selbst aufgegeben hat. Warum habe ich das nicht allein hingekriegt?, fragt er sich. Warum musste das Schicksal mir ein Baby in die Mülltonne legen, damit ich mich endlich zusammenreiße und weiterlebe? Bin ich am Ende schuld an Felizias Unglück? Er schüttelt den Kopf. »Unsinn!«, sagt er laut. So wichtig ist er nicht, dass irgendein Gott für ihn einen anderen Menschen opfert. Felizia und er sind zwei winzige Bröckchen im Universum, irgendwo weit voneinander entfernt von größeren Brocken abgesplittert und allein losgedriftet durch die Leere des Raums und nun durch einen kosmischen Zufall zusammengestoßen. So ist es und nicht anders. Hans denkt an einen Satz, den seine Frau ständig wiederholte, als sie noch verheiratet waren. Er schaut in den Spiegel, klimpert mit den Augen und sagt mit übertrieben hoher Stimme: »Alles hängt von allem ab, vergiss das nicht, Schatz!« Dann setzt er ein missmutiges Gesicht auf, zieht die Mundwinkel nach unten, hängt die Augenlider tief und sagt mit barscher Männerstimme: »Was soll das schon wieder, Schatz?«
    Ja, fragt Hans sich und schaut nachdenklich in den Spiegel, was sollte das? Warum musstest du nur immer mit erhobenem Zeigefinger durch die Gegend laufen, warum hattest du für alles, was uns im Alltag passierte, eine Regel, eine Weisheit, die doch immer nur Nörgeleien an mir waren? – »Hee, ich rede mit dir!«, fährt er sein Spiegelbild an. Er verändert wieder sein Gesicht, spitzt die
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