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Glückskind (German Edition)

Glückskind (German Edition)

Titel: Glückskind (German Edition)
Autoren: Steven Uhly
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sich. Er geht weiter, dann bleibt er wieder stehen und will zurückgehen und Herrn Wenzel eine andere, bessere Geschichte erzählen. Aber es ist zu spät und er geht weiter. Nach Hause. Hans muss verschwinden aus der äußeren Welt, die ihm seine neue Enkeltochter sofort wieder abnehmen will. Er fährt mit einer Nachbarin aus dem Neunten hinauf. Man kennt sich nur vom Sehen und Grüßen. Der Frau fällt nicht einmal auf, dass Hans dicker ist als sonst. Warum musste er auch ausgerechnet zu Herrn Wenzel gehen? Hans kann gar nicht aufhören, sich zu ärgern.
    Als er seine Wohnung betritt und den Schmutz und die Unordnung, lässt er die Schultern hängen. Er setzt sich auf seinen Stuhl im Wohnzimmer, ohne den Mantel auszuziehen, und schaltet den Fernseher ein. Felizia schnauft laut, aber Hans muss jetzt abschalten. Im Fernsehen läuft eine Ratgebersendung über die besten Geldanlagen. Hans hat keine Lust zu zappen, er schaltet den Fernseher wieder aus. Auf dem Tisch liegt die Zeitung, die Herr Wenzel ihm geschenkt hat. Es ist eine Boulevardzeitung, Hans liest so etwas nicht. Warum hat der Wenzel mir die geschenkt?, fragt er sich und beginnt, darin zu blättern. Auf der dritten Seite in der Rubrik ›Stadtviertel‹ findet er die Antwort. Es ist ein kurzer Artikel. Er liest ihn mehrere Male.
    Dann steht er auf, verlässt die Wohnung, fährt mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss, verlässt das Haus, überquert die Straße und betritt den Lotto-Toto-Laden von Herrn Wenzel. Die Türglocke läutet. Drei Kinder, die höchstens acht Jahre alt sind, stehen dort unschlüssig vor runden Plastikdosen und zeigen zögerlich auf schwarze Lakritzschnecken, grüne Gummifrösche, rote Zuckerstangen. Immer wieder schauen sie die Münzen an, die sie in ihren Händen halten, rechnen halblaut nach und halten Rat. Herr Wenzel steht bei ihnen und wartet. Als er Hans erblickt, nickt er ihm kurz zu.
    Die Kinder versuchen, die richtige Wahl zu treffen, so viele Süßigkeiten zu kaufen, wie ihr Geld es ihnen erlaubt, und zugleich für alle drei die gleiche Menge zu erstehen, damit es gerecht ist. Hans kann sich kaum beherrschen, so ungeduldig ist er. Am liebsten würde er die Kinder anfahren, sich zu beeilen, aber als er schon kurz davor ist, betritt eine junge Frau den Laden und Hans sagt lieber nichts. Er konzentriert sich auf Felizia. Er spürt ihren Herzschlag wie ein fernes Pochen, so fern, dass er sich plötzlich an seine Tochter Hanna erinnert, Wie lange ist das her?, fragt er sich, aber bevor er an die Ewigkeit denken kann, taucht ein Bild vor ihm auf, seine Frau mit Hanna in ihren Armen, beide lächeln ihn an, Hanna ist höchstens ein Jahr alt, Hans lächelt nicht zurück, er fühlt sich eingeengt von den Forderungen nach Liebe und Aufmerksamkeit, die in den lächelnden Gesichtern liegen, er hat das Gefühl, fortlaufen zu müssen, um endlich frei zu sein. Frei wovon? Das wusste er damals nicht, und deshalb blieb er und ertrug dieses Gefühl wie ein endgültiges Urteil, und deshalb hat er dieses Bild nicht vergessen, es steht für sein Versagen als Vater und als Mann. In welcher Verfassung war ich?, fragt Hans sich ratlos und schüttelt traurig den Kopf, aber da sind die Kinder endlich fertig und gehen zur Ladentheke. Herr Wenzel geht um die Theke herum, taucht dahinter wieder auf, er ist jetzt der Kassierer, Herr Wenzel spielt ein Ein-Mann-Stück mit zwei Rollen. Er lächelt freundlich, als er sagt: »Das macht dann drei Euro fünfzig.«
    Die Kinder händigen ihm nacheinander ihre Münzen aus, dann gehen sie, und jetzt ist Hans an der Reihe, aber hinter ihm steht die junge Frau, und was er zu sagen hat, ist nicht für ihre Ohren bestimmt.
    Hans weiß nicht, was er tun soll, aber da lächelt Herr Wenzel wieder freundlich und sagt: »Kommen Sie doch schon einmal vor, junge Dame.«
    Während er sie bedient, lauscht Hans wieder Felizias Atem. Sie schläft immer noch, Schlafen kleine Babys so lange?, fragt er sich und kann sich nicht erinnern. Warum kann ich mich nicht erinnern?, fragt er sich. Weil ich mich so lange nicht erinnert habe oder weil ich es noch nie wusste? Hab ich meine eigene Tochter je so nah bei mir gehabt? Er verscheucht die Gedanken. »Was geschehen ist, ist geschehen«, murmelt er. Er ruft sich seine halbwüchsigen Kinder in Erinnerung: Hanna, so streitbar, so schnell mit den Worten, dass er, der Vater, keine andere Waffe hatte als die Lautstärke seiner Stimme. Und Rolf, sein Sohn, einen Kopf größer als er selbst, ein
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