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Glücksfall

Glücksfall

Titel: Glücksfall
Autoren: Marian Keyes
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hast du.« Gutmütig rutschte Vonnie so weit von ihm ab, dass jetzt viel Platz zwischen ihr und Artie war. Ihre Art war nicht meine, aber irgendwie mochte ich sie.
    Und welche Rolle spielte Artie in dem Spiel? Seine ganze Aufmerksamkeit galt der unteren linken Ecke des Puzzles, das war seine Rolle. Ohnehin war er der Typ, dessen Stärke im Schweigen lag, aber wenn Vonnie und ich mit unserem Alphaweibchen-Gerangel anfingen, hielt er sich – so wie ich es ihm aufgetragen hatte – vollständig heraus.
    Anfangs hatte er mich vor ihr in Schutz nehmen wollen, aber das hatte mich zutiefst gekränkt. »Das ist ja, als wolltest du sagen, sie sei furchterregender als ich.«
    Aber das eigentliche Problem war Bruno. Er war zickiger als das gemeinste Mädchen und hatte, ich weiß es wohl, gute Gründe dafür, denn seine Eltern hatten sich getrennt, als er zarte neun Jahre alt war, und jetzt war er dreizehn und wurde von Wut erzeugenden Hormonen überschwemmt. Das drückte er aus, indem er sich im Faschisten-Look kleidete: taillierte schwarze Hemden, enge schwarze Hosen, die er in kniehohe, glänzend schwarze Lederstiefel steckte. Das sehr, sehr blonde Haar trug er, von einem schräg in die Stirn fallenden Achtzigerjahre-Pony abgesehen, kurz geschnit ten. Außerdem benutzte er Wimperntusche, und jetzt sah es so aus, als würde er es auch mit Rouge versuchen.
    »Ja, gut!«, sagte ich mit einem etwas angespannten Lächeln in die versammelten Gesichter. Artie hob den Blick von dem Puzzle und sah mich aus blauen Augen intensiv an. Himmel. Ich schluckte. Ich wollte auf der Stelle, dass Vonnie nach Hause ging und die Kinder sich in die Betten verzogen, damit ich mit Artie allein sein konnte. Ob es unhöflich war, sie zum Gehen aufzufordern?
    »Was zu trinken?«, fragte er und ließ meinen Blick nicht los. Ich nickte stumm.
    Ich rechnete damit, dass er aufstehen würde und ich ihm dann in die Küche folgen könnte, um schnell an ihm zu schnuppern.
    »Ich hole dir was«, sagte Iona verträumt.
    Ich verkniff mir ein frustriertes Aufheulen und sah ihr nach, wie sie die Treppe zur Küche hinunterglitt. Iona war fünfzehn. Ich fand es erstaunlich, dass man sie beauftragen konnte, ein Glas Wein von einem Zimmer ins nächste zu tragen, ohne dass sie es bis auf den letzten Tropfen leerte. Als ich fünfzehn war, habe ich alles getrunken, was ich in die Finger bekam. »Hast du Hunger, Helen?«, fragte Vonnie. »Im Kühlschrank ist noch Fenchelsalat mit Vacherin Mont-d’Or.«
    Mein Magen verschloss sich, auf keinen Fall würde etwas hineingelangen. »Ich habe schon gegessen.« Das stimmte nicht. Nicht mal eine Scheibe von dem Abendkuchen meiner Eltern hatte ich in mich hineinzwingen können.
    »Sicher?« Vonnie musterte mich von oben bis unten. »Du siehst ein bisschen dünn aus. Nicht dass du irgendwann dünner bist als ich.«
    »Keine Angst, das passiert schon nicht.« Aber vielleicht doch. Die letzte richtige Mahlzeit hatte ich … ich konnte mich gar nicht mehr erinnern, vielleicht vor einer Woche oder so zu mir genommen. Anscheinend hatte mein Körper aufgehört, meinem Gehirn zu melden, dass er Nahrung brauchte. Oder vielleicht war mein Kopf so voll mit Sorgen, dass er die Information nicht mehr aufnahm. In den seltenen Fällen, wo doch eine Meldung durchgekommen war, hatte ich mich außerstande gesehen, etwas so Kompliziertes zu tun, wie Milch über eine Schale Cheerios zu gießen. Selbst das Popcorn, das ich am Abend zuvor zu essen versucht hatte, erschien mir höchst merkwürdig. Warum würde man diese pappigen kleinen Styroporkugeln essen wollen, die einem den Gaumen zerschnitten und dann Salz in die Wunden rieben?
    »Helen!«, sagte Bella. »Lass uns was spielen!« Sie brachte einen rosa Plastikkamm und eine rosa Plastikschachtel mit rosa Haarklipsen und rosa Haargummis zum Vorschein. »Nimm doch Platz.«
    O nein. Friseur. Na ja, wenigstens spielten wir nicht wieder Autoanmeldung beim Verkehrsamt. Das war das schlimmste Spiel überhaupt: Ich musste stundenlang anstehen, während sie in einer imaginären Glaskabine saß. Ich hatte versucht zu erklären, dass ich das Auto doch online anmelden konnte, aber Bella protestierte und sagte, dann wäre es ja kein Spiel mehr. »Hier ist dein Wein«, sagte sie, und dann zischend zu Iona: »Schnell, gib ihr das Glas, du siehst doch, dass sie Stress hat.«
    Iona hielt mir ein Glas Rotwein hin und ein großes Glas mit einem Getränk und klimpernden Eiswürfeln. »Shiraz oder selbst gemachten
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