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Glücklich die Glücklichen

Glücklich die Glücklichen

Titel: Glücklich die Glücklichen
Autoren: Yasmina Reza
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dein Körper zwei Meter von mir entfernt in diesem Sarg liegt. Aber du, wo bist du ? Vor nicht langer Zeit sagte eine Patientin im Wartesaal meines Arztes folgenden Satz: Nach einer Weile ist selbst das Leben ein idiotischer Wert. Es stimmt schon, dass man auf den letzten Metern zwischen der Versuchung schwankt, dem Tod eine energische Antwort entgegenzuhalten (ich habe mir vor kurzem ein Fitnessrad für die Wohnung gekauft), und der Lust, sich einfach an wer weiß welchen dunklen Ort weggleiten zu lassen ... Erwartest du mich irgendwo, Ernest ? ... Wo ? ...« Vielleicht war das nicht das letzte Wort. Es war kaum zu hören und könnte genauso gut auch die erste Silbe eines aufgegebenen Satzes sein. Jean schweigt. Er hat sich fast gänzlich zum Sarg gedreht. In mehreren winzigen Etappen, darum bemüht, nicht merken zu lassen, wie schwächlich sein Körper ist. Seine Lippen öffnen sich einen Spalt und schließen sich wieder, wie der Schnabel eines hungrigen Vogels. Der rechte Arm ist fest auf die Krücke gestützt und bringt sie zum Zittern. In dieser fragilen Haltung verharrt er lange, murmelt, könnte man meinen, dem Toten etwas ins Ohr. Dann blickt er wieder in den Saal, in Richtung Darius, der sofort herbeikommt, um ihn zu seinem Platz zurückzubegleiten. Ich drücke Odiles Hand und sehe, dass sie weint. Der Bestatter hat das Mikro wieder genommen und kündigt an, dass der Sarg von Ernest Blot jetzt zur Kremation überführt wird, was, so sagt er, dem Wunsch des Toten entspricht. Die Träger heben den Sarg wieder an. Die Anwesenden stehen auf. Die Träger erklimmen stumm die Stufen bis zum Kata­falk, der lächerlich hoch und weit weg erscheint. Ein Mechanismus wird in Gang gesetzt. Ernest verschwindet.

Odile Toscano
    – Deine Großmutter war in ihrem letzten Lebensjahr nicht mehr ganz richtig im Kopf, sagt Marguerite. Sie wollte ihre Kinder im Dorf abholen. Ich sagte, Maman, du hast doch keine Kinder mehr. Doch, doch, ich muss sie nach Hause bringen. Und wir zogen los, ihre Kinder zu holen, in Petit-­Quevilly. Ich nutzte das, um sie mal wieder zum Gehen zu bewegen. Es war lustig, sechzig Jahre früher, Ernest und mich abzuholen. Wir sind jetzt an Rennes vorbei. Marguerite sitzt am Fenster, neben Robert. Seit wir losgefahren sind, ist sie so gut wie die einzige, deren Stimme zu hören ist. Sie redet sporadisch und ausschließlich an mich gerichtet (die beiden anderen haben sich in eine undurchdringliche Abgeschiedenheit zurückgezogen) und exhumiert dabei verschiedene Phasen aus der Vergangenheit der Toten. Wir sitzen in einem jener modernen Abteile, die zum Gang hin offen sind. Maman sitzt Marguerite gegenüber. Sie hat ihre Go-Sport-Tasche zwischen uns gekeilt. Sie wollte sie nicht oben auf die Ablage packen. Robert schmollt, seit er erfahren hat, dass wir in Guingamp umsteigen müssen. Das war ein Fehler meiner Sekretärin. Sie hat Paris-Guernonzé hin und zurück gebucht, mit einmal Umsteigen auf der Hinfahrt. Als Robert das am Bahnhof Montparnasse gemerkt hat, warf er uns vor, wir wollten immer alles verkomplizieren, dabei hätten wir ganz einfach mit dem Auto fahren können. Er stürmte auf dem Bahnsteig vornweg, widerlich, die schwarz-rosa gestreifte Go-Sport-Tasche mit der Urne unterm Arm. Ich begreife nicht, warum es diese Tasche sein musste. Marguerite auch nicht. Sie hat mir klammheimlich zugeflüstert, wieso hat deine Mutter Ernest da reingetan ? Gab es keine elegantere Reisetasche ? Hinter der Scheibe ziehen Lagerhallen und zersiedelte, triste Industriegebiete vorbei. In der Ferne Siedlungen und umgepflügte Felder. Ich schaffe es nicht, meine Rückenlehne richtig einzustellen. Es fühlt sich an, als würde sie mich nach vorne schubsen. Robert fragt, was ich da vorhabe. Ich störe ihn beim Lesen. Eine Hannibal-Biografie. Auf dem Umschlag steht als Inschrift das Juvenal-Zitat: »Hannibals Asche bringe zur Waage, wieviel Pfund wirst an dem großen Führer du finden ?« Maman hat die Augen geschlossen. Die Hände auf den Oberschenkeln, lässt sie sich vom Geschaukel des Zuges wiegen. Ihr Rock sitzt zu hoch über der Bluse, die sie unsinnigerweise reingesteckt hat. Es ist lange her, dass ich sie richtig angeschaut habe. Eine wohlgenährte, müde Dame, die keiner beachtet. Als ich klein war, lief sie in Cabourg in einem Mousselinekleid mit schmaler Taille über die Promenade. Der helle Stoff wehte, und sie ließ ihre Einkaufstasche aus Segeltuch im Wind baumeln. Der Zug fährt ohne Halt
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