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Glücklich die Glücklichen

Glücklich die Glücklichen

Titel: Glücklich die Glücklichen
Autoren: Yasmina Reza
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will der heiligen Jungfrau danken. – Hör mal, Hervé, falls es Gott gibt, falls es die heilige Jungfrau gibt, meinst du, dass vom Universum aus gesehen und in Anbetracht der irdischen Misshelligkeiten meine Halskette für sie irgendeine Rolle spielt  ? ! ... Ich rufe also meinen Vater an, der mir erreichbarer scheint. Ich bitte ihn um klar benannte Hilfestellung. Vielleicht, weil ich angesichts der Umstände ganz präzise Dinge begehre, aber auch, weil ich, unterschwellig, seine Fähigkeiten testen will. Es ist immer derselbe Hilferuf. Es soll sich bittebitte etwas bewegen. Aber mein Vater ist eine Niete. Er hört mich nicht, oder er besitzt keinerlei Macht. Ich finde es jämmerlich, dass die Toten keinerlei Macht besitzen. Ich missbillige diese radikale Trennung der Welten. Ab und zu schreibe ich ihm prophetisches Wissen zu. Ich denke: Er kommt deinen Wünschen nicht nach, weil er weiß, dass sie dir nicht zum Vorteil gereichen würden. Das geht mir auf die Nerven, möchte ich gern sagen, was mischst du dich da ein, aber ich kann sein Nichthandeln wenigstens als bewussten Akt betrachten. Bei Jean-Gabriel Vigarello, dem letzten Mann, in den ich mich verliebt habe, war es genau dasselbe. Jean-Gabriel Vigarello ist ein Kollege von mir, Mathematiklehrer am Camille-Saint-Saëns-Gymnasium, wo ich Spanisch unterrichte. Aus dem Abstand betrachtet kann ich nur sagen, mein Vater hatte keineswegs unrecht. Aber der Abstand, was ist das  ? Das Alter. Die himmlischen Werte meines Vaters bringen mich zur Verzweiflung, bei genauerer Betrachtung sind sie sehr spießig. Zu Lebzeiten glaubte er an die Sterne, an Spukhäuser und allen möglichen esoterischen Tinnef. Mein Bruder Ernest, der geradezu stolz auf seinen Unglauben ist, ähnelt ihm jeden Tag ein bisschen mehr. Neulich sagte er mal wieder, auf sich selbst bezogen, »Die Sterne stellen Tendenzen dar, keine Vorherbestimmungen«. Mein Vater war ganz vernarrt in diese Formel, das hatte ich vergessen, und er verknüpfte sie in fast bedrohlicher Weise mit dem Namen Ptolemäus. Ich dachte, wenn die Sterne nichts vorherbestimmen, was, Papa, konntest du dann von der unmittelbaren Zukunft wissen  ? Für Jean-Gabriel Vigarello interessierte ich mich von dem Tag an, als mir seine Augen auffielen. Sie waren gar nicht so leicht zu sehen, wegen seiner Frisur, lange Haare, die die Stirn verschwinden ließen, eine zugleich hässliche und für einen Mann seines Alters unmögliche Frisur. Ich dachte sofort, dieser Mann hat eine Frau, die sich nicht um ihn kümmert (selbstverständlich ist er verheiratet). Man lässt doch einen Mann von fast sechzig Jahren nicht mit so einer Frisur herumlaufen. Und vor allem sagt man ihm, versteck deine Augen nicht. Blaugrau changierende Augen, spiegelnd wie Bergseen. Eines Abends saß ich allein mit ihm in einem Café in Madrid (wir hatten für drei Klassen eine Schulfahrt nach Madrid organisiert), da fasste ich mir ein Herz und sagte zu ihm, Sie haben sehr sanfte Augen, Jean-Gabriel, es ist doch völlig unsinnig, dass Sie sie verstecken. Dieser Satz, eine Flasche Carta de Oro, eins führte zum andern, und wir landeten in meinem Zimmer, das auf einen Hof mit miauenden Katzen hinausging. Wieder in Rouen, tauchte er sofort wieder in sein Alltagsleben ab. Wir begegneten uns auf den Schulkorridoren, als wäre nichts passiert, er schien es immer eilig zu haben, die Aktentasche in der linken Hand, den Körper zur selben Seite geneigt und den graumelierten Pony tiefer im Gesicht denn je. Diese wortlose Manier der Männer, einen auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen, finde ich ziemlich jämmerlich. Als müsste man uns vorsorglich daran erinnern, dass im Leben nichts von Dauer ist. Ich dachte mir, ich lege ihm eine Nachricht ins Postfach. Eine unverfängliche Nachricht, geistreich, eine kleine Erinnerung an eine Anekdote aus Madrid. Ich deponierte die Nachricht an einem Vormittag, an dem ich wusste, dass er da war. Keine Antwort. Nicht an jenem Tag und nicht an den nächsten. Wir grüßten uns, als ob nichts wäre. Da überkam mich eine Art Kummer, Liebeskummer kann ich gar nicht dazu sagen, eher eine Art Verlassenheitskummer. Es gibt ein Gedicht von Borges, das mit den Worten beginnt: »Ya no es mágico el mundo. Te han dejado«, »Längst ist die Welt entzaubert. Man hat dich verlassen«. Verlassen , schreibt er, ein geräuschloses Alltagswort. Alle können einen verlassen, selbst ein Jean-Gabriel Vigarello mit seiner fünfzig Jahre verspäteten
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