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Glücklich die Glücklichen

Glücklich die Glücklichen

Titel: Glücklich die Glücklichen
Autoren: Yasmina Reza
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liegt. Mir wird klar, dass er wahrscheinlich irgendwo Schmerzen hat, und ich sage mir, dass hier, im Souterrain-Wartezimmer der Clinique Tollere Leman, bestimmt noch andere Personen insgeheim Schmerzen haben. – Wissen Sie, sagt meine Mutter unvermittelt und beugt sich mit erstaunlich ernstem Gesicht zu dem Mann, mein Gatte war besessen von Israel. Der Mann richtet sich auf und streicht die Revers seines Nadelstreifenanzugs glatt. – Die Juden sind besessen von Israel, ich nicht, ich bin kein bisschen besessen von Israel, aber mein Gatte war’s. Es fällt mir schwer, meiner Mutter bei dieser Volte zu folgen. Es sei denn, sie will ihren Irrtum bei den Fischen ohne Schuppen wettmachen. Ja, vielleicht liegt ihr daran klarzustellen, dass ihre ganze Familie jüdisch ist, auch sie, obwohl grundlegende Regeln ignoriert werden. – Und Sie, sind Sie auch von Israel besessen ?, fragt meine Mutter. – Natürlich, antwortet der Mann. Diese Lakonik begrüße ich. Wenn es nur um mich ginge, könnte ich mich ausführlich über die Abgründe dieser Antwort auslassen. Meine Mutter hat eine andere Auffassung von den Dingen. – Als ich meinen Gatten kennenlernte, besaß er gar nichts, sagt sie, seine Familie hatte ein Lebensmittelgeschäft in der Rue Réaumur, ein winziges Rattenloch. Am Ende seines Lebens war er Grossist, drei Geschäfte und ein Miethaus. Er wollte alles Israel hinterlassen. – Maman, was soll das ? Was erzählst du da ? – Das ist die Wahrheit, sagt meine Mutter und dreht sich nicht mal um, wir waren eine sehr harmonische, sehr glückliche Familie, der einzige dunkle Fleck war Israel. Einmal habe ich ihm gesagt, die Juden bräuchten kein eigenes Land, da hätte er mich fast geschlagen. Bei einer anderen Gelegenheit wollte Vincent den Nil runterfahren, da hat er ihn rausgeworfen. Der Mann will eine Bemerkung machen, aber er ist nicht schnell genug, bis er seine farblosen Lippen aufkriegt, ist meine Mutter schon weiter. – Chemla will mir ein neues Mittel geben. Ich vertrage das Xynophren nicht mehr. Meine Hände lösen sich in Fetzen auf, sehen Sie. Und ich soll wieder eine Chemo per Infusion kriegen, von der mir die Haare ausfallen. – Maman, das ist nicht sicher, mische ich mich ein, Chemla hat gesagt, die Chancen stehen fifty-fifty. – Fifty-fifty, das macht doch hundert, sagt meine Mutter und wischt meine Feststellung mit einer Handbewegung weg, aber ich will nicht sterben wie in Auschwitz, so ein Ende will ich nicht, als Glatzkopf. Wenn ich diese Behandlung machen lasse, kann ich mich von meinen Haaren verabschieden. In meinem Alter hab ich nicht mehr die Zeit, sie wieder wachsen zu sehen. Und von meinen Hüten kann ich mich dann auch verabschieden. Meine Mutter schüttelt mit sorgenvoll verzogenem Mund den Kopf. Sie hält sich ganz gerade, während sie ohne Unterlass redet, reckt den Hals wie ein frommes Mädchen. – Ich mache mir keine Illusionen, wissen Sie, sagt sie. Ich plaudere hier in diesem grässlichen Wartezimmer nur mit Ihnen, weil ich meinen Söhnen und Doktor Chemla eine Freude machen will. Ich bin seine Lieblingspatientin, es macht ihm Freude, mich weiter zu behandeln. Also unter uns, diese Bestrahlung, das bringt doch überhaupt nichts. Angeblich soll die mir meine Sehkraft von früher zurückbringen, dabei sehe ich jeden Tag schlechter. – Sag das nicht, Maman, werfe ich ein, es hieß doch, dass man die Wirkung nicht sofort spürt. – Was sagst du, fragt meine Mutter, du murmelst dir was in den Bart. – Die Wirkung tritt nicht sofort ein, wiederhole ich. – Nicht sofort, das heißt, ohne Garantie, sagt meine Mutter. In Wahrheit weiß Chemla doch überhaupt nichts mit Sicherheit. Er tappt im Dunkeln. Ich diene ihm als Versuchskaninchen, na schön, die braucht’s auch. Ich bin Fatalistin. Mein Gatte fragte mich auf dem Totenbett, ob ich immer noch eine Feindin Israels sei, der Heimat des jüdischen Volkes. Ich antwortete, aber nein, natürlich nicht. Was soll man zu einem Mann sagen, der bald nicht mehr da ist ? Man sagt ihm, was er hören möchte. Ist doch schräg, sich an idiotischen Wertvorstellungen festzuklammern. In letzter Minute, kurz bevor alles weg ist. Heimat, wer braucht denn eine Heimat ? Selbst das Leben wird irgendwann zu einer idiotischen Wertvorstellung. Selbst das Leben, finden Sie nicht ?, seufzt meine Mutter. Der Mann überlegt. Er könnte antworten, denn meine Mutter hat offenbar ihr Salbadern für eine seltsam meditative Haltung unterbrochen. In
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