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Gloriana

Gloriana

Titel: Gloriana
Autoren: Michael Moorcock
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selbst. Seine Experimente, so entschuldigte er sich, seien von größter Bedeutung und sollten vor den Augen Uneingeweihter geschützt sein. Man ging darauf ein, hielt ihn aber mittlerweile für vollständig verrückt. Es gab manche Spekulation über das Schicksal Montfallcons, den die meisten im Selbstmord geendet wähnten, und über Quire, der durch die Geheimtür geflohen und offensichtlich in die Unterwelt zurückgekehrt war, bevor er sich ins Ausland gerettet hatte.
    Die Königin wollte über keinen der beiden sprechen. Die Gräfin von Scaith erfüllte ihr Versprechen, erwähnte Quire mit keinem Wort und weigerte sich, ihn anzuklagen. Sir Perrott bewahrte den festen Glauben, daß Montfallcon der Schurke gewesen sei, der ihn eingekerkert habe. Sir Orlando Hawes wahrte in der Angelegenheit aus zwei Gründen kluges Stillschweigen: wegen seines natürlichen Taktes und aus dem Bedürfnis, den Ruf seiner jungen Frau zu schützen. Josias Priest emigrierte nach Mauretanien.
    Am Hof hielt die alte, unbeschwerte Fröhlichkeit wieder ihren Einzug, und Gloriana präsidierte den Festlichkeiten mit Anmut und Würde, doch war ihr Lachen immer nur höflich, und ihr Lächeln, wenn es sich überhaupt einstellte, behielt einen wehmütigen Zug. Sie wurde womöglich noch mehr geliebt als in früherer Zeit, doch schien es, daß die Leidenschaft, die sie beunruhigt und zu stets erneuerter Suche nach Erfüllung getrieben hatte, nun von ihr gewichen sei. Sie war eine Göttin geworden, fast eine lebende Statue, ein ruhiges, freundliches Symbol des Reiches. Sie nahm die Gewohnheit an, des Nachts unbegleitet in ihren Gärten zu lustwandeln und verbrachte viel Zeit in dem Heckenlabyrinth, bis es ihr gründlich vertraut war. Doch auch danach schien es eine besondere Anziehungskraft auf sie auszuüben. Manchmal konnten Hofdamen und Kammerzofen, wenn sie aus den Fenstern sahen, ihren Kopf wie körperlos im Mondschein über den Buchsbaumhecken dahinschweben sehen.
    Die Zeit verging für Gloriana, eine schleppende und einsame Stunde um die andere, und sie nahm keine Liebhaber. Die Stunden ihrer privaten Zurückgezogenheit verbrachte sie mit Sir Ernest und Lady Wheldrake und mit ihrem überlebenden Kind, Duessa, deren Sohn viele Jahre später Thronerbe werden sollte. Sie erzog Duessa zu einer Mäßigkeit und Nüchternheit, die sie selbst niemals erfahren hatte, um romantisches Empfinden durch realistisches Verstehen aufzuwiegen.
    Eines Abends, als sie sich anschickte, schlafen zu gehen, kam ein Palastdiener mit einer Botschaft an ihre Tür. Sie las die von unsicherer Hand geschriebenen Worte. Dr. Dee war ihr Verfasser. Er bat darum, sie allein sprechen zu dürfen, weil er, wie es in der Nachricht hieß, sich dem Tode nahe fühle und sein Gewissen erleichtern wolle. Sie runzelte die Stirn und überlegte, ob sie wenigstens einen Teil des Weges in Begleitung zurücklegen solle, entschied sich dann aber für den Fall, daß er tatsächlich im Sterben liegen sollte, gegen den Zeitverlust. So zog sie einen schweren Morgenmantel aus Brokat über ihr Nachtgewand, fuhr mit den bloßen Füßen in Pantoffel und eilte zum Ostflügel, wo Dr. Dees Wohnung lag. Um in jenen schlecht beleuchteten Bereichen den Weg zu finden, nahm sie eine Kerze mit. Um zu Dr. Dee zu gelangen, mußte sie durch den kühlen, alten Thronsaal, dem sie instinktiv ferngeblieben war, wenn sie es irgend hatte einrichten können. Ein Frösteln überlief sie, als sie ihn betrat; sie haßte den Ort und seine Erinnerungen. Überdies teilte sie die Abneigung ihrer Generation gegen den Stil einer Architektur der spitz zulaufenden Kreuzrippengewölbe. Es war beinahe, als wage sie sich wieder ins Innere der Wände vor, und nur ihre Sorge um den alten Freund und Hofastrologen trieb sie vorwärts. Mit Ausnahme eines einzigen breiten Balkens aus blassem Mondlicht, der den Block und die umgebenden Teile des Fußbodenmosaiks traf, um eine fast kreisrunde Fläche zu bilden, lag der weitläufige Raum in Dunkelheit, beherrscht von den riesigen anthropomorphen Statuen entlang den Wänden, den Säulen und den Gewölben, die sie trugen. Sie hielt inne. Es gab nichts mehr zu fürchten, nachdem das Gesindel, welches sich in den Wänden eingenistet hatte, in die neuen orientalischen Länder des Imperiums deportiert worden war. Nur die allmählich verblassenden Erinnerungen an frühere Schrecken blieben. Doch als sie unweit des Thrones vorüberging, glaubte sie in der Nähe ein Geräusch zu hören und hob die
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