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Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)

Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)

Titel: Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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Müßiggänger, wie sich etwa Pferdehändler ein Pferd ansehen, das verkauft werden soll, prüfend den reizenden Gegenstand ihrer Wette an. Diese in der Kenntnis der Pariser Verkommenheiten gealterten Richter, lauter Leute von überlegenem Geist, und zwar alle auf verschiedenem Gebiet, alle gleich verderbt und gleichermaßen Verführer, alle wahnsinnigem Ehrgeiz verfallen, daran gewöhnt, alles anzunehmen und alles zu erraten, hefteten die Augen auf eine maskierte Frau, eine Frau, die nur von ihnen entziffert werden konnte. Nur sie und noch ein paar Stammgäste des Opernballs vermochten unter dem langen Leichentuch des schwarzen Dominos, unter der Kapuze und dem herabhängenden Kragen, wie sie alle Frauen unerkennbar machen, die Rundung der Formen, die Besonderheiten der Haltung und des Schritts, die Bewegung der Hüften, die Stellung des Kopfes und all jene Dinge zu erkennen, die gewöhnlichen Augen am wenigsten wahrnehmbar, ihren Augen aber am leichtesten sichtbar waren. Trotz dieser formlosen Hülle konnten sie also das rührendste Schauspiel sehen, das einer von echter Liebe belebten Frau. Mochte es nun die Torpille, die Herzogin von Maufrigneuse oder Frau von Sérizy sein, die letzte oder die erste Sprosse der sozialen Leiter, auf jeden Fall war dieses Geschöpf eine wunderbare Schöpfung, eine Vision glücklicher Träume. Diese alten jungen Leute und diese jungen Greise hatten eine so lebhafte Empfindung, daß sie Lucien um das erhabene Vorrecht der Verwandlung dieser Frau in eine Göttin beneideten. Die Maske ging dort, als wäre sie mit Lucien allein; für diese Frau waren die zehntausend Personen, war die schwere Atmosphäre voller Staub nicht mehr vorhanden; nein, sie stand unter dem Himmelsgewölbe der Liebe da, wie Raffaels Madonnen unter ihrem ovalen Goldreif stehen. Sie fühlte nicht, wie man sie mit Ellbogen streifte; die Flamme ihres Blicks brach durch die beiden Löcher ihrer Maske hervor und entzündete sich an Luciens Augen, und schließlich schien das Zittern ihres Körpers von der Bewegung ihres Freundes auszugehen. Woher kommt diese Flamme, die eine liebende Frau umstrahlt und sie unter allen anderen auszeichnet? Woher kommt jene Leichtigkeit eines Luftgeistes, die die Gesetze der Schwere zu verwandeln scheint? Ist es die nach außen tretende Seele? Hat das Glück physische Kräfte? Die Harmlosigkeit einer Jungfrau, die Anmut der Kindheit verrieten sich unter dem Domino. Obgleich sie getrennt einhergingen, glichen diese beiden Wesen jenen Gruppen Floras und Zephyrs, die von den geschicktesten Bildhauern kunstvoll verschlungen sind; aber es war mehr als Skulptur, als die größte der Künste; Lucien und sein hübscher Domino erinnerten an jene mit Blumen oder Vögeln beschäftigten Engel, die der Pinsel Giovanni Bellinis unter die Bilder der Jungfrau-Mutter setzte; Lucien und diese Frau gehörten der Phantasie an, die über der Kunst steht, wie die Ursache über der Wirkung steht.
    Als diese Frau, die alles vergaß, nur noch einen Schritt von der Gruppe entfernt war, rief Bixiou: »Esther!« Die Unglückliche wandte sich lebhaft um, wie jemand, der sich rufen hört, erkannte den boshaften Menschen und senkte den Kopf gleich einem Sterbenden, der den letzten Seufzer ausgestoßen hat. Ein gellendes Gelächter brach aus, und die Gruppe zerstob in der Menge wie ein Trupp erschreckter Feldmäuse, die am Rande des Weges in ihre Löcher schießen. Nur Rastignac entfernte sich nicht weiter, als er mußte, damit es nicht aussah, als flöhe er vor den funkelnden Blicken Luciens; er konnte einen zwiefachen, gleich tiefen, wenn auch verschleierten Schmerz bewundern: zunächst die arme Torpille, die wie vom Blitz getroffen war; dann die unverständliche Maske, den einzigen Menschen der Gruppe, der geblieben war. Esther flüsterte Lucien in dem Moment, in dem ihr die Knie brachen, etwas ins Ohr, und Lucien verschwand mit ihr, indem er sie stützte. Rastignac folgte dem hübschen Paar mit dem Blick, versunken in seine Gedanken.
    »Woher hat sie diesen Namen der Torpille?« fragte ihn eine düstere Stimme, die ihn bis ins Innerste traf, denn sie war nicht mehr verstellt. »Er ist es, und er ist wieder entkommen ...« sagte Rastignac vor sich hin. »Schweig, oder ich bringe dich um,« erwiderte die Maske, indem sie eine andere Stimme annahm. »Ich bin mit dir zufrieden; du hast dein Wort gehalten, und also hast du mehr als einen Arm zu deinem Dienst. Bleibe hinfort stumm wie das Grab; aber ehe du verstummst,
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