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Gilde der Jäger 02 - Engelszorn

Gilde der Jäger 02 - Engelszorn

Titel: Gilde der Jäger 02 - Engelszorn
Autoren: N. Singh
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glitt er am Balkon vorbei und entschwand. Ihr Herz hämmerte immer noch von der Kombination aus Kuss und Bewunderung, als ihr Blick endlich auf den Briefumschlag fiel.
    Die feinen Härchen auf ihrem Arm stellten sich auf, als sie mit den Fingerspitzen über das feste weiße Papier fuhr. Ein unheimliches Gefühl überkam sie – so als sei der Umschlag so kalt, dass nichts ihn wieder warm werden lassen würde. Manche würden es als Grabeskälte bezeichnen.
    Elena überlief eine Gänsehaut.
    Sie versuchte sie zu ignorieren und drehte den Umschlag um. Zwar war das Siegel beschädigt, doch als sie es zusammenfügte, konnte sie das Bild erkennen. Ein Engel. Natürlich, dachte sie, und konnte ihren Blick nicht von ihm abwenden. Der Engel war in schwarzer Tusche ausgeführt, aber warum sollte sie das beunruhigen? Mit gerunzelter Stirn betrachtete sie das Siegel näher.
    »Oh mein Gott.« Die geflüsterten Worte waren ihr ungewollt über die Lippen gekommen, als sie das Geheimnis des Bildnisses entdeckte. Es war eine Sinnestäuschung, ein Trick. Von einem Blickwinkel aus betrachtet, stellte das Siegel einen knienden Engel mit gesenktem Kopf dar. Veränderte man hingegen den Blickwinkel, verwandelte sich der Engel in ein weißknochiges Skelett und sah seinen Betrachter aus leeren Augenhöhlen an.
    Sie ist nicht mehr ganz von dieser Welt.
    Auf einmal bekamen Raphaels Worte eine völlig neue Bedeutung.
    Schaudernd öffnete sie den Umschlag und zog die innen liegende Karte heraus. Sie war aus schwerem beigefarbenem Papier und erinnerte sie an die teuren Grußkarten, die ihr Vater für seine Privatkorrespondenz benutzte. In dunklem Gold zog sich die verschnörkelte Schrift über die Karte. Sie rieb mit dem Finger darüber – warum, wusste sie selbst nicht so recht –, nicht, dass sie echtes von unechtem Gold hätte unterscheiden können. »Würde mich allerdings nicht überraschen.« Lijuan war alt, so alt. Und ein solch mächtiges uraltes Wesen konnte im Laufe des Lebens schon ein beträchtliches Vermögen angehäuft haben.
    Irgendwie komisch, obgleich sie oft über Raphaels Macht nachdachte, brachte sie sie nie mit seinem hohen Alter zusammen. Er strahlte eine Lebendigkeit aus, die sie gar nicht auf den Gedanken brachte. Strahlte … Menschlichkeit aus? Nein. Raphael war kein Mensch, nicht einmal annäherungsweise.
    Aber so wie Lijuan war er auch nicht.
    Ihr Blick wanderte wieder zu der Karte zurück.
    Raphael, ich lade dich in die Verbotene Stadt ein. Heißen wir diesen Menschen willkommen, den du so bereitwillig angenommen hast. Lass uns die Schönheit der Verbindung aus Unsterblichkeit und ehemaliger Sterblichkeit bewundern. Schon seit Millennien hat mich nichts mehr so fasziniert.
    Zhou Lijuan
    Elena wollte kein Gegenstand von Lijuans Faszination sein. Eigentlich wollte sie nicht einmal in die Nähe der anderen Kadermitglieder kommen. Meist war sie ja sicher, dass Raphael sie nicht töten würde. Aber was die anderen betraf … »Zum Teufel!«
    Mein kleiner Liebling.
    Meine Achillesferse.
    Sie mochte die Worte abtun, doch das änderte nichts an ihrer Richtigkeit. Wenn der Erzengel von New York sie wirklich liebte, konnte sie genauso gut eine Zielscheibe auf dem Rücken tragen.
    Wieder sah sie ihn vor sich, das Gesicht blutüberströmt, die Flügel zerfetzt; ein Erzengel, der den Tod statt des ewigen Lebens wählte. Immer würde sie daran denken, und obwohl sich alles in ihrem Leben gerade änderte, gab ihr diese Gewissheit doch Halt.
    »Nicht alles«, murmelte sie und griff nach dem Telefon. Denn wenngleich der Ort hier aussah, als stammte er aus längst vergangenen Zeiten, in denen es von Rittern und Herzogen nur so wimmelte, entsprach alles dem neuesten Standard. Was nicht weiter verwunderlich war, wenn sie so darüber nachdachte – schließlich hätten die Engel nicht Äonen überleben können, weil sie sich an die Vergangenheit geklammert hatten. Der Erzengelturm in New York mit seiner hoch in die Wolken aufragenden Silhouette war das beste Beispiel dafür.
    Während es am anderen Ende der Leitung klingelte, ertappte sie sich dabei, wie sie durch die Balkontüren nach draußen sah und nach dem wundervollen Wesen Ausschau hielt, das über jenen Turm herrschte und das sie kühn ihren Liebsten nannte.
    Das Läuten hörte auf. »Hallo, Ellie.« Eine krächzende Stimme, gefolgt von einem hörbaren Gähnen.
    »Mist, ich habe dich geweckt.« Sie hatte den Zeitunterschied zwischen dem Ort hier – wer wusste schon, wo er lag
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