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Giftschatten

Giftschatten

Titel: Giftschatten
Autoren: Robert Corvus
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Wissensgebiete wussten. Alles, was man nicht nachprüfen konnte. Niemals waren sie bereit, für ihre Theorien einzustehen.
    Modranel sah zu Silions silberner Dreiviertelscheibe hinauf. Er wollte nicht nur darüber dozieren, dass das Mondlicht die Magie schwinden ließ wie die Ebbe das Wasser. Er wollte spüren, wie die Gezeiten der Macht anschwollen und abnahmen. Manchmal glaubte er, bereits eine gewisse Empfindsamkeit dafür zu entwickeln. Immerhin konnte er Kerzenflammen zu seiner Hand ziehen oder mit der Kraft seiner Gedanken die Luft bewegen, um damit Buchseiten zum Rascheln zu bringen. Allerdings nur, wenn er sich so stark konzentrierte, dass er danach den ganzen Abend Kopfschmerzen hatte. Aber das war nichts im Vergleich zu den Fähigkeiten der großen Zauberer, und dieser Umstand war Modranel schmerzlich bewusst. Er war beinahe vierzig Jahre alt. Er konnte nicht ewig warten, oder auf seinem Grabstein würden ein paar Freundlichkeiten stehen, die man leicht mit einem »er war mittelmäßig« würde summieren können.
    »Gehen wir hinein?«, fragte Lióla.
    Aus der Nähe wirkten die schwarzen Mauern, als seien sie der Schatten, den die nahende Hand eines Riesen warf. Modranel sah an dem spitzen Giebel hinauf. Auf der Westseite war er an einigen Stellen eingebrochen, und auch die Fenster waren beinahe alle gesplittert. »Ja, wir gehen hinein.« Er tastete nach dem Griff des Dolchs. Die Klinge war mit dem stärksten Gift bestrichen, das er hatte bekommen können. Auch wenn es bei ihm vermutlich nicht wirkt.
    »Schön. Mir gefällt der Wind nicht.« Sie zog ihren Umhang enger um die Schultern. Er zupfte ein paar Zweige ab, die daran hängen geblieben waren.
    Modranel kam sich ein wenig albern vor, als er den Klopfer betätigte. Die Tür war in genauso jämmerlichem Zustand wie die fünf gebrochenen Stufen, die zu ihr hinaufführten. Der eine Flügel lag zersplittert auf dem Boden, der andere hing an einer letzten Angel, als sei er ein Betrunkener, der an einer Fahnenstange Halt suchte.
    »Wer wohnt hier?«, fragte Lióla.
    »Niemand mehr.«
    »Warum klopfen wir dann? Mama könnte uns doch hören, und dann findet sie uns und ich muss doch den Tisch decken helfen!«
    »Mama hört uns nicht.«
    Willig folgte sie ihm an seiner Hand in die Empfangshalle. Rechts stand eine halbe Statue auf einem Sockel, über der Hüfte war sie abgebrochen, die Splitter des Oberkörpers lagen auf dem Marmorboden verstreut. Ob das Bildnis wohl schon an dem Tag zu Bruch gegangen war, als die Mondschwerter hier eingedrungen waren? Oder erst später, bei ihrem zweiten Besuch, als die Paladine alles zerstört oder geraubt hatten, was in ihren Augen unheilig gewesen war?
    Unwillig runzelte Modranel die Stirn. Unheilig. Magie war nicht unheilig. Gefährlich vielleicht, ja. Auch für den Zauberer. Aber sie war genauso gut oder böse, wie ein Pfeil gut oder böse war. Man konnte ein Reh jagen oder einen Menschen ermorden, und man konnte die arkane Macht so einsetzen, dass sie ein Segen oder dass sie ein Fluch war. Aber dafür muss man sie erst einmal beherrschen, dachte er bitter.
    »Wohin gehen wir?« Lióla zog leicht an seinem Arm.
    Eingebrochene Türen führten in weitere Zimmer. Der größte Teil der Eingangshalle wurde von einer doppelten, asymmetrischen Freitreppe eingenommen, deren Arme sich überkreuzten, bevor sie den Boden erreichten.
    »Wir warten auf einen anderen Gast«, antwortete Modranel.
    »Versteckt der sich auch?«
    »Sei jetzt still, Lióla.«
    Der Klopfer war nicht zu überhören gewesen. Vermutlich war Baron Gadior noch nicht da, sonst hätte er sich bestimmt gemeldet. Modranel und Lióla setzten sich auf eine Treppenstufe, von der aus sie den Eingang sehen konnten, und warteten.
    Mittelmäßig zu sein war schlimmer als alles andere. Mit dem vollständigen Scheitern konnte man sich abfinden, mit dem gloriosen Erfolg natürlich erst recht. Wer mittelmäßig war, der war entweder so tumb, dass er nichts vom Leben merkte, oder er war wie Modranel, ruhelos, wie jemand, der ständig auf die Kutsche harrte, die ihn nach Hause bringen sollte und die niemals kam.
    Als ihr langweilig wurde, stand Lióla auf und schlich durch den Raum. Sie fasste nichts an, auch wenn ihre Nase beinahe den verrußten Bilderrahmen berührte und sie sich hinhockte, um die Scherben einer Vase genauer zu betrachten.
    »Darf ich zum Kamin gehen?«, flüsterte sie, als sie zu Modranel zurückkam. »Mir ist kalt.«
    »Welcher Kamin?«
    »Da scheint ein
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