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Giftschatten

Giftschatten

Titel: Giftschatten
Autoren: Robert Corvus
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unbeschädigt. Modranel wusste, dass es anders war.
    »Die Scheune ist kaputt«, sagte Lióla.
    Mit einem schmerzlichen Lächeln sah Modranel zu ihr hinunter, bevor sein Blick dem zerbrechlich wirkenden Arm folgte, mit dem sie auf das eingebrochene Nebengebäude zeigte.
    »Kannst du noch?«, fragte er. »Oder musst du dich ausruhen?«
    »Ich halte länger durch als du, Papa!« Im Licht des größten Mondes sah ihr Gesicht aus, als habe es die Farbe von Milch. Das schwarze Haar hatte er nicht gänzlich zähmen können, einige Strähnen hingen in ihre Stirn. Als er nicht antwortete, nahm Lióla eine davon und steckte sie sich in den Mund. Ihre Lippen waren kaum dunkler als ihre Haut. Zartrosa, aber das konnte man nur bei Tage erkennen.
    Er strich ihr über den Kopf. »Dann komm.«
    Der Hang war steil. Früher hatte Endorn hier Wein angebaut, inzwischen waren die Reben verwildert und durchsetzt mit dornigem Gestrüpp, an dem ihre Mäntel hängen blieben. Die Pflanzen wucherten über den Kiesweg, aber wenigstens boten die Steine festen Halt. Hätten die Bauern der Umgebung gewagt, sich dem Anwesen zu nähern und sich zu nehmen, was sie für ihre eigenen Dörfer brauchen konnten, wie sie es bei anderen Ruinen taten, dann hätten Modranel und seine Tochter achtgeben müssen, um auf dem lehmigen Hang nicht auszurutschen. Auch wenn die Wolken weitergezogen waren, troff die Nässe noch von den Zweigen.
    »Nicht so fest!«, bat Lióla. Modranel lockerte den Griff um ihre Hand.
    Er betrachtete ihr Ziel und dachte über die Ironie nach, dass der Stall inzwischen stärker verfallen war als das Herrenhaus. Den Berichten zufolge war er von dem Feuer damals verschont geblieben, Rinder, Schweine und Schafe waren an die Dörfer verteilt worden, die unter Endorn hatten leiden müssen. Mit der Auflage, sie binnen eines Monats zu schlachten. Man hatte nicht riskieren wollen, die Tiere zur Zucht einzusetzen, wer wusste schon, wie viel Böses sie durch die Nähe zu Endorn aufgenommen hatten?
    Abergläubisches Volk, versuchte sich Modranel zu beruhigen. Es gelang nicht recht. Schließlich kam er selbst hierher, um etwas von der dunklen Macht zu finden, derer sich Endorn bedient hatte.
    »Wird Mami nicht böse mit uns sein?«
    »Aber nein.« Sein Hals kratzte. »Sie ist doch auch nicht böse, wenn du Verstecken spielst. Es gehört zum Spiel dazu, dass sie nicht weiß, wohin wir gehen.«
    »Wird Ajina uns auch suchen?«
    »Nein, nur Mama.«
    Lióla gluckste. »Hier sucht sie uns bestimmt nicht. Wie lange müssen wir hierbleiben?«
    »Wie meinst du das?«
    »Wann haben wir gewonnen? Wenn Mama uns nicht findet?«
    Er blieb stehen und schloss für einen Moment die Augen. »Dieses Spiel wird sehr lange dauern.«
    »Länger als bis zur ersten Tagesstunde?«
    »Ja, länger.«
    »Gut!«, jubelte Lióla. »Dann brauche ich nicht zu helfen, den Frühstückstisch zu decken! Eigentlich wäre ich nämlich dran!«
    »Ajina wird es schon schaffen«, sagte er tonlos.
    »Die ist doch erst sechs!«
    Er sah sie an. »Wie alt bist du?«
    »Zehn!«, rief sie stolz.
    »Ja. Zehn …« Wo waren diese zehn Jahre geblieben? Lióla war kurz nach der Heirat geboren worden, mit ihrem gewölbten Bauch war Quinda die schönste Frau der Welt gewesen, daran erinnerte sich Modranel genau. Sie hatte meistens ein helles Leinenkleid getragen, am Schluss hatte es über dem Bauch gespannt. Und Blumen hatte sie in ihr Haar geflochten. Wann hatte sie damit aufgehört? Hatte sie noch einen Kranz aus Veilchen getragen, als sie mit Ajina schwanger gewesen war?
    Modranel wusste es nicht. Damals hatte er sich schon in Bibliotheken verkrochen. Bei Ajinas Geburt war er nicht dabei gewesen. Er hatte in einem Kerker auf seine Auslösung gewartet, weil er in der Nacht davor beinahe das Stadtarchiv niedergebrannt hatte. Kerzenflammen und müde Augen waren eine gefährliche Kombination. Die Entschädigung hatte den gesamten Besitz der Familie aufgezehrt.
    Hätte er nicht bald darauf die Stelle als Schreiber eines milirischen Grafen erhalten, hätten sie unter der Brücke enden können. Vielleicht hätte damals alles eine andere Richtung genommen, wenn sein Herz sich nicht bereits entschieden gehabt hätte. Es konnte den Gedanken nicht ertragen, in der Brust eines dieser Versager zu schlagen, die sich selbst ›Gelehrte‹ nannten. Schon damals hatten ihn die Männer in den grünen Roben mit den spitzen Hüten angewidert, die alles, wirklich alles über ferne Gegenden und exotische
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