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Giftpilz

Giftpilz

Titel: Giftpilz
Autoren: Stefan Alexander; Ummenhofer Rieckhoff
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bewilligt bekommen. Die Kur war zu seinem Leidwesen stationär, das
abendliche Heimfahren aus »medizinisch-psychosomatisch-diätetischen Gründen«
verboten. Überhaupt solle er sich vorstellen, er sei Hunderte Kilometer von zu
Hause weg, um ganz abschalten zu können, hatten sie ihm gesagt.
    Bereits am ersten Abend war Hummel kurz davor gewesen, zu desertieren,
um wenigstens die Nacht in seinem eigenen Bett zu verbringen – oder in dem von
Carolin. Allerdings wäre das der strengen Dame an der Pforte wohl aufgefallen,
weshalb er zum Entschluss gelangt war, nicht gleich anfangs durch übergroße
Bockigkeit aufzufallen.
    Die hatte er schon bei der Eingangsuntersuchung gezeigt. Der
neuralgische Punkt war das Wiegen gewesen. Der Moment der Wahrheit – nach mehr
als fünf Jahren.
    »Ist das wirklich nötig?«, hatte er gefragt. »Ich weiß, dass ich ein
paar Kilo zu viel habe. Aber in der Hauptsache geht’s doch um mein Herz.«
    Jegliche Renitenz war jedoch vergebens gewesen. Hinterher hatte
Hummel sogar bereut, so zickig gewesen zu sein, denn im Vergleich zu den
anderen Bediensteten hatte sich der knorrige Arzt durch einen trockenen Humor
ausgezeichnet.
    »Und jetzt bitte noch mal ohne Anhänger vorfahren«, hatte er
bemerkt, nachdem sich Hubertus endlich schnaufend auf das Ding gestellt hatte.
    Hummel hatte ihn nur erstaunt angeglotzt.
    »Nur ein Spaß«, winkte der Arzt ab. »Aber ihr BMI ist bei fast 35.«
    »BMI? Herr Doktor, reden Sie doch einfach Klartext mit mir.«
    Das ließ der sich nicht zweimal sagen: »Sie sind zu fett.«
    Hummel schluckte trocken. Vermutlich ließ sich nicht jeder Patient
in einer psychosomatischen Reha so etwas sagen, ohne anschließend
Selbstmordgedanken zu hegen. Immerhin hatte er sein Hauptvorurteil über Bord
werfen müssen: Seine Mitpatienten waren keineswegs alles hoffnungslose Fälle,
deretwegen man die Brücken im Klinikumfeld absichern musste, damit sie sich nicht
hinunterstürzten. Die meisten machten eigentlich einen recht auskömmlichen
Eindruck.
    Er schluckte noch einmal und meinte dann beleidigt: »Also, wie viel
wiege ich?« Gemeinerweise konnte nämlich nur der Arzt die Digitalzahl auf der
Waage ablesen.
    Wenn ich über hundert wiege, bin ich wirklich ein Psychosozialfall,
dachte sich Hummel. Um nach einem weiteren Gedanken geistig zu ergänzen:
Verflixt. Es sind über hundert. So viel waren es doch
schon beim letzten ärztlichen Wiegen.
    Seitdem hatte er allein schon deshalb nicht abgenommen, weil er von
einer Ehekrise in die nächste geschlittert war. Und bei Krisen, so lautete die
alte Hummel’sche Regel, wurde gegessen – ohne Rücksicht auf Verluste.
Beziehungsweise Zugewinne bei den Kilos.
    Vielleicht hatte er durch den Stress in letzter Zeit aber doch etwas
abgenommen. Und durch die vermehrte Gartenarbeit. Und die Hausarbeit, die an
ihm hängen blieb, seit seine Frau Elke ausgezogen war. Sie wohnte mittlerweile
in einer Art WG zusammen mit anderen ehemaligen Mitgliedern der Sekte »Kinder
der Sonne«, der Elke kurzzeitig angehört hatte. Hummels neue Freundin Carolin
lebte nach wie vor in ihrer kleinen Wohnung in St. Georgen. Für einen Einzug
bei Hubertus war es noch zu früh – und außerdem hätte Martina, Hummels Tochter,
für diesen Fall wohl umgehend eine Bombe unter dem ehemaligen Ehebett
deponiert. Sie konnte Carolin nicht ausstehen.
    Der Arzt, der sich als Dr. Auberle vorgestellt hatte (»wobei Sie den
Dr. vergessen können«), murmelte: »Sie sind drüber …«
    Schicksalsergeben nickte Hummel. »Und konkret? Hundertzwei?
Hundertdrei?«
    Der Arzt stieß ein trockenes, kehliges Lachen aus. Vermutlich war er
Raucher. »Humor ist schon mal eine gute Eigenschaft, um bald wieder ganz auf
dem Damm zu sein.«
    Oh, oh. Hummel wurde leicht panisch. Über hundertdrei? Deutlich über
hundertdrei?
    »Hundertzwanzig Komma zwei«, gab Auberle die schreckliche Wahrheit
preis.
    »Jesses nei!«
    Hummel war so niedergeschlagen, dass er während der nächsten zwei
Stunden nur noch apathisch nickte. Beim Rat des Arztes, sein Leben von Grund
auf zu ändern, bei der Weiterleitung an die Diätassistentin und zu all dem, was
sie mit ihm vorhatten. Er wehrte sich auch nicht mehr – nicht gegen das
therapeutisch begleitete Essen mit der Ernährungsberaterin, nicht gegen das
umfassende Sportprogramm, nicht gegen die Entspannungstherapie, die von
Atemgymnastik über Qi Gong bis hin zur progressiven Muskelentspannung nach Jacobson
reichte, und auch nicht gegen die
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