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Giftkuss

Giftkuss

Titel: Giftkuss
Autoren: Zara Kavka
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fallen lassen könnte. Aber nun teilten sie diese tiefe Trauer. Sie hielten einander fest und weinten leise. Cleo vergaß alles andere um sich herum: ihre Mutter, all die neuen Gedanken und Gefühle, Katharina, den Kommissar, den Stiefvater, sogar das Foto von Anja. Es war, als bestände die Welt nur noch aus ihr, Anjas Mutter und der gemeinsamen Sehnsucht nach Anja.
    Mehrere Minuten standen sie so im Eingang. Cleos Mutter wartete etwas abseits. Irgendwann löste Anjas Mutter die Umarmung und bat sie beide ins Haus.
    »Schön, dass Sie gekommen sind«, wiederholte sie. »Ich habe Tee gemacht.«
    Sie gingen ins Wohnzimmer. Cleo und ihre Mutter setzten sich nebeneinander auf das weiße Ledersofa und Frau Diekamp nahm im schwarzen Fernsehsessel Platz. Sie schien dort schon den größten Teil des Tages verbracht zu haben, denn um den Sessel herum war alles Mögliche ausgebreitet: mehrere Wasserflaschen, ein Adressbuch, das Telefon, ein Schreibblock, Stifte, Brille, benutzte und unbenutzte Taschentücher.
    »Ich bin zu gar nichts in der Lage, war heute auch nicht arbeiten. Ich kann an nichts anderes denken. Mein Gott, mein Baby, wer tut so was?« Sie versuchte, das Weinen zu unterdrücken, und Mama kam ihr zu Hilfe.
    »Frau Diekamp, was Sie durchmachen, ist ganz, ganz furchtbar. Sie müssen jetzt nicht ans Arbeiten denken.«
    »Nehmen Sie sich Tee, hier, die Kanne habe ich gerade frisch aufgegossen.« Sie zeigte auf eine Glaskanne mit dampfendem Tee.
    »Ich weiß, es ist viel zu heiß für Tee, aber mir ist so kalt, ich friere den ganzen Tag.«
    »Das ist natürlich. Sie stehen unter Schock.«
    Cleo war stolz auf ihre Mutter, die Worte fand, um in dieser schwierigen Situation eine Unterhaltung zu führen. Sie selbst hätte das nicht geschafft.
    »Ist Ihr Mann nicht da?«
    »Er ist noch in der Firma. Wir hatten heute sehr viele und wichtige Termine. Am Mittag ist er gefahren.«
    Cleo atmete auf und Anjas Mutter fügte entschuldigend hinzu: »Einer musste ja hin.«
    Dann schreckte Anjas Mutter auf, als hätte sie ein Geräusch wahrgenommen, aber Cleo hörte nichts.
    »Ich werde noch verrückt. Die ganze Zeit höre ich dieses quietschende Gartentor. Anja hat immer die Abkürzung durch das kleine Waldstück genommen. Ich habe es ihr zwar verboten, aber sie ist trotzdem unten langgegangen. Du ja auch, Cleo, stimmt’s?«
    »Ja, vor allem, wenn wir zum Bus mussten. Dann ist es viel kürzer.«
    »Ich hatte so viel Angst um euch. Vor allem wenn ihr als Kinder im Wald wart und da hinten bei dem morschen Hochsitz gespielt habt.«
    Frau Diekamp zog die auf dem Boden liegende Wolldecke über ihre Beine und schaute gedankenverloren auf den Glastisch.
    »Mein Gott, was hätte da alles passieren können. Aber ihr seid immer gesund und munter zurückgekehrt. Am Quietschen des Gartentors habe ich euch kommen hören. So fröhlich wart ihr, so glücklich. Und es ist nie was passiert, nie… Und jetzt…«
    »Möchten Sie auch einen Tee, Frau Diekamp?«
    Während Mama allen Tee einschenkte und sich die beiden Mütter gegenseitig das Du anboten, schweifte Cleo mit ihren Gedanken ab. An den Hochsitz hatte sie noch gar nicht gedacht. Das war noch ein Ort, wo Anja das Tagebuch versteckt haben könnte. Cleo dachte an Samstag, als sie dort gesessen und von Anjas Tod erfahren hatte.
    Der kleine Tisch, der umgekippt war… Konnte darunter noch etwas liegen? Kaum. Unter der Decke? Das hätte sie doch gemerkt, schließlich hatte sie darauf gesessen. Sie erinnerte sich nur an einen piksenden Tannenzapfen. Die Kissen hatte sie alle aufgeschüttelt. Sie dachte an das Spinnennetz und die Fliege und die lose Planke. Lange wird dieser Hochsitz nicht mehr halten. Jetzt brauchten sie ihn ja auch nicht mehr…
    »Cleo?«
    Die beiden Mütter schauten sie besorgt an.
    »’tschuldigung, ich war in Gedanken woanders.« Sie nahm einen Schluck Tee aus dem Becher, den ihr ihre Mutter in die Hand gedrückt hatte.
    »Sina wollte von dir wissen, wie es heute in der Schule war«, sagte Mama.
    »In der Schule? Da war ich nicht lange. Kommissar Wolff hat mich ins Präsidium geholt. Er wollte mit mir reden.«
    »Warum denn?«
    Jetzt fühlte Cleo sich definitiv nicht mehr wohl. Sie konnte nicht lügen, aber auch nicht die Wahrheit sagen und eigentlich wollte sie sowieso hier raus und auf dem Hochsitz nach dem Tagebuch suchen.
    »Darf ich ein bisschen raus? Mir geht es nicht so gut.«
    »Sollen wir nach Hause fahren?«
    »Nein. Ich will nur ein bisschen raus. Seid mir nicht
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