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Giftiges Grün

Giftiges Grün

Titel: Giftiges Grün
Autoren: Elsemarie Maletzke
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zwei Männer in Zivil standen auf den Betonplatten am Rand. In einem erkannte sie ihren Onkel. Sie las:
    »Tödlicher Unfall im Schwimmbecken. Buchfinkenschlag, 22. Juni. Einen grausigen Fund machte der Gärtnerbursche Johann Gerswiller in den frühen Morgenstunden des gestrigen Sonntags im Park der Villa Buchfinkenschlag. Marion B. (17), ein Hausgast, die an dem Sonnenwendfest des Ehepaars Weil teilgenommen hatte, wurde von Gerswiller leblos im Schwimmbassin aufgefunden. Offenbar war das junge Mädchen über den Rand gestürzt und ertrunken. Gerswiller sagte gegenüber der Polizei, er wisse, dass sie nicht schwimmen konnte. Das Fest, das Marion B. unbemerkt verlassen hatte, fand auf der Terrasse statt. Wie das Mädchen in den entfernt gelegenen unbeleuchteten Teil des Parks gelangte, ist nicht geklärt. Die Festgesellschaft hatte, als sie ihr Verschwinden bemerkte, ohne Erfolg nach Marion B. gesucht. Das Ehepaar Weil war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen. Die Polizei geht von Selbstmord oder einem Unfall aus, schließt aber auch Fremdverschulden nicht aus.«
    Hastig glättete Lina die übrigen Seiten, verfluchte ihre Eile und Raffgier, in der sie beim Einpacken die Zeitungen auseinandergerissen hatte, wühlte und wendete, fand nichts Zweckdienliches, schließlich doch ein heiles Blatt aus einer späteren Ausgabe mit einem Zweispalter, der den Polizeibericht zusammenfasste:
    »In der Nähe des Schwimmbeckens waren nur die Spuren der Toten und die des Zeugen Gerswiller gefunden worden. Der Todeszeitpunkt lag zwischen Mitternacht und zwei Uhr morgens. Marion B. wies keine äußeren Verletzungen und keine Spuren von Gewalt oder Gegenwehr auf. Sie hatte vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr. In ihrem Blut fanden sich 0,1 Promille Alkohol. Bevor Sie in das Becken gestürzt war, hatte sie offenbar in großer Hast ihr Kleid ausgezogen, das links gewendet am Rand lag. Von den etwa vierzig Gästen, die auf der Terrasse versammelt waren, hatte keiner für längere Zeit das Fest verlassen. Auch das Personal – die Köchin, das Hausmädchen Marie und der Gärtnerbursche, der beim Servieren der Getränke half – hatte einander ständig im Auge behalten.«
    Aber sie haben alle verdammt lange gebraucht, um Marions Verschwinden zu bemerken und einen Suchtrupp in den Park zu schicken, dachte Lina. Wäre es nicht naheliegend gewesen, am Bassin als möglicher Unfallstelle zuerst zu suchen? Obwohl weder die Gäste noch das Personal Auffälligkeiten im Verhalten des jungen Mädchens bemerkt haben wollten und kein Abschiedsbrief gefunden wurde, ging die Polizei weiterhin von Selbstmord oder Unfall aus.
    Neben den Artikel hatte der Redakteur zwei Photos gestellt. Das eine zeigte die Villa vom Tor aus gesehen, mit der großen Terrasse vor der Front, die in der Mitte von den Arkaden eines Vorbaus überwölbt war und zu der eine zweigeteilte Freitreppe aus dem Park aufstieg. Die Zufahrt war von säulenförmigen Eiben gerahmt. Aus dem tief heruntergezogenen schwarzen Dach mit seinen Giebeln und Gauben ragte ein runder Turm. Das zweite war ein Passphoto von Marion B., ein hübsches Mädchen mit zarter Haut und ein wenig verhangenen Augen. Sehr schmal, irgendwie appetitlos, dachte Lina. Kein Lächeln. Das dunkle Haar war in der Mitte gescheitelt, bedeckte die Wangen und fiel ihr bis über die Schultern. Die Bildunterschrift teilte mit, dass sie seit drei Monaten Hausgast des Ehepaars Weil in der Villa Buchfinkenschlag war.
    Was macht denn eine Siebzehnjährige drei Monate lang als Gast in diesem großen, einsamen Haus? dachte Lina. Zu wem gehörte sie? Hatte sie keine Familie? Hielt sie sich versteckt? Ging sie irgendwo zur Schule? Lina stellte sich Marion Bruant vor, wie sie mit einem Kassettenrekorder auf der Balustrade saß. Was trugen sie damals? Schlaghosen? Oder Volants und indische Westen? Punk? Bestimmt nicht im Haus von Tante Rose. Was hörte sie? Queen, die Stones, Deep Purple? Oder Abba? Marion war sicher nicht der Typ, der mit Butterbrot und Kakao im Rucksack in den Wald zog, und dem Onkel Heinrich das Federchen vom Eichelhäher schenkte. Aber man konnte nie wissen. Vielleicht hatte sie die Bäume und die Vesper, das Jägerlied und die Anekdoten von den Bankdirektoren auf Wildschweinjagd genau so geliebt wie Lina. Sie strich die zerknüllten Zeitungsseiten glatt und steckte sie in einen Umschlag.

    Nach der Testamentseröffnung hatten Lina, Karl und Vetter Eilemann vor der Tür des Notars gestanden und nicht gewusst,
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