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Gewitterstille

Gewitterstille

Titel: Gewitterstille
Autoren: Sandra Gladow
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inzwischen wohl schon über ein Jahr lang täglich betreut hatte, nur flüchtig. Ihre Nachbarin hatte ihn allerdings, nach allem, was Anna wusste, sehr gemocht. Sie war trotz ihres hohen Alters eine moderne Frau ohne Vorurteile gewesen, die sich nicht mit Äußerlichkeiten aufhielt und folglich auch keinen Anstoß an dem jugendlichen Schlabberlook des Pflegers genommen hatte. Der junge Mann blieb in der Tür stehen. Ihm war anzusehen, dass ihn Annas Aufforderung hereinzukommen irritierte.
    »Ich versuche seit heute Morgen, Frau Möbius zu erreichen. Ich dachte, sie wäre vielleicht bei Ihnen.« Er lugte an Anna vorbei in den Flur, als erwarte er, die alte Frau dort jeden Moment zu entdecken.
    »Nein, das ist sie nicht, aber jetzt kommen Sie doch erst mal rein«, beharrte Anna, die ihm die traurige Nachricht nicht zwischen Tür und Angel überbringen wollte.
    Asmus blickte auf seine ausgetretenen Turnschuhe und trottete dann zögerlich hinter Anna her. In der Küchentür blieb er erneut stehen.
    »Nehmen Sie doch einen Moment Platz«, bot Anna an und deutete auf den eckigen Küchentisch aus Glas, an dem neben Emilys Kinderstuhl zwei gelbe und zwei orangefarbene Schalenstühle standen. Der junge Mann schien sich nicht sehr wohl in seiner Haut zu fühlen. Offenbar wusste er nicht recht, welchem Umstand er diese Einladung zu verdanken hatte. Anna entschied sich, ihn nicht länger im Ungewissen zu lassen:
    »Ich habe eine traurige Nachricht, Herr Asmus. Frau Möbius ist verstorben. Herr Dr. Jung hat sie heute Morgen gefunden. Ich war auch kurz drüben. Es tut mir leid.« Sie deutete auf einen der Küchenstühle. »Jetzt setzen Sie sich doch wenigstens einen Moment. Ich brühe Ihnen auf den Schreck auch gern einen Espresso auf.« Anna drückte den blassen jungen Mann sanft auf einen Stuhl und ging zur Espressomaschine hinüber.
    »Ich habe mich schon gewundert, dass sie nicht erreichbar war«, sagte Asmus nach einer kleinen Pause. »Ich habe heute Morgen versucht, sie anzurufen, um ihr zu sagen, dass ich mich verspäten würde. Ich fühlte mich nicht gut und habe verschlafen.«
    »Und dann auch noch das«, sagte Anna mitfühlend. Tatsächlich sah Asmus müde und nicht sehr wohl aus.
    Anna musterte ihr Gegenüber aus dem Augenwinkel, während sie den Espresso vorbereitete. Sie fragte sich, wie sich ein Pflegedienstmitarbeiter wohl fühlte, zu dessen Routine neben der Pflege eines alten Menschen auch dessen Tod gehörte. Was auch immer Asmus empfand, so schien er sein Gefühlsleben jedenfalls nicht mit Anna teilen zu wollen. Er saß auf der Kante seines Stuhls und sah aus, als wolle er jeden Moment aufspringen. Seine Beine wippten leicht nervös unter dem Tisch, während er mit den Händen an einem Blütenblatt herumnestelte, das von dem in der Mitte ihres Tisches stehenden, kurz gebundenen Strauß Sonnenblumen heruntergefallen war. Anna reichte ihm seinen Espresso, setzte sich mit ihrer Tasse ebenfalls an den Tisch und schob die Zuckerdose in seine Richtung.
    »Ich stelle mir Ihren Beruf sehr schwer vor«, sagte sie. »Ich glaube, ich könnte das nicht. Mich nimmt der Tod von Frau Möbius schon mit, obwohl sie nur meine Nachbarin war. Wenn ich mir vorstelle, dass Sie sie täglich gepflegt haben und jetzt mit ihrem Tod konfrontiert werden, wo Sie ja ganz zwangsläufig mit der Zeit eine Beziehung zu ihr aufgebaut haben müssen …« Anna versuchte vergebens, Blickkontakt mit dem jungen Mann herzustellen. »Es ist sicher nicht leicht für Sie.«
    »Nein, das ist es auch nicht«, sagte Asmus, schien aber mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein.
    Anna forschte in seinen Zügen erfolglos nach einer deutbaren Gefühlsregung. Sie wollte gerade von den Umständen des Todes berichten, als Sophie in der Küchentür auftauchte. Sie stoppte ihren Rollstuhl abrupt auf der Schwelle.
    »Komm ruhig rein. Herr Asmus war auf der Suche nach Frau Möbius. Er ist …«
    »Hallo, Jens.« Sophie blickte Asmus, der trotz seiner von Aknenarben übersäten Haut nicht unattraktiv war, kaum an. Dennoch konnte Anna an ihrer Körpersprache sofort erkennen, dass sie sich in seiner Gegenwart gehemmt fühlte. Offenbar hätte sie am liebsten kehrtgemacht und wäre verschwunden. Wie pubertär sie doch noch wirkt, dachte Anna. Sophie strich sich eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht. Offenbar hatte sie gerade geduscht und war noch unfrisiert. Zudem hatte sie sich noch nicht geschminkt, ein Zustand, in dem sie nach eigenen Bekundungen nicht einmal Georg
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