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Geständnis unterm Mistelzweig

Geständnis unterm Mistelzweig

Titel: Geständnis unterm Mistelzweig
Autoren: Emilie Richards
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entgehen ließe, mit Egan zu reden. Er war der Vater, den sie alle nie gehabt hatten, der Mann, der ihnen eines Tages als Maßstab dienen würde, wenn sie einen Ehemann suchten.
    Egan konnte sogar dem Mann gleichen, den sie selbst sich eines Tages suchen würde. Als sie zu alt geworden war, um noch auf einen neuen Vater zu hoffen, hatten ihre Wünsche sich etwas zugewandt, das eher möglich war. Es musste ein Mann sein, der sie liebte, der glaubte, dass sie die schönste Frau auf der Welt sei, ein Mann, der gern lächelte und ein warmes Herz hatte. Ein Mann … wie Egan.
    Aber der Gedanke erschreckte sie. Egan erschreckte sie. Wenn sie nicht aufpasste, rührte er in ihrem Innern das Verlangen und all die Gefühle an, die sie vor Jahren eingeschlossen hatte.
    Sie war dazu noch nicht bereit, sie wollte es nicht. Eines Tages würde sie sich vielleicht eine ruhige, vernünftige Beziehung mit jemandem wünschen. Aber sie befürchtete, dass Egan für seine Liebe völlige Hingabe verlangte. Er würde so viel haben wollen, dass ihr dann, wenn er sie verließ -- und das würde doch sicherlich geschehen, oder etwa nicht? --, dass ihr dann kaum noch etwas bleiben würde.
    Deshalb würde sie vor Egan bewahren, so viel sie konnte. Sie hatten sich nie richtig geküsst und schon gar nicht miteinander geschlafen. Sie wusste aber, nein, sie war sich völlig sicher, dass sie dann, wenn sie miteinander schliefen, niemals Nein zu ihm sagen könnte, ganz gleich, was er verlangte.
    Sie nahm sich selbst einen Schwur ab, als Egan mit seinem Wagen vorfuhr. Aber sie vergaß ihre Ängste zeitweise, als er sich über den Schalthebel beugte und die Beifahrertür für sie öffnete.
    “Du siehst großartig aus”, sagte er.
    “Deine Mutter wird vielleicht denken, dieser Pullover sei zu auffällig.”
    Egan lächelte. “Meine Mutter trägt auch Rot.”
    Dasselbe Pflegeheim, in dem Weihnachten nicht gefeiert wurde, hatte in Chloe die Angst geweckt, sich mit Farben auszudrücken. Es hatte dreiundzwanzig Jahre und eine Menge Mut gekostet, bevor sie sich zwei Röcke und eine Bluse in den Grundfarben kaufte. Sie hatte jetzt eine vollständige Ausstattung mit Kleidung in hellen Farben, aber ein schwaches Schuldbewusstsein hatte sie dabei immer noch.
    “Ist das zu viel Schmuck?” fragte sie und berührte die Ohrringe. “Sehe ich nicht aus wie eine Zigeunerin?”
    “Von Zigeunerinnen fühle ich mich ganz stark angezogen.”
    “Aha, das erklärt also meinen Reiz.”
    “Deine Intelligenz, dein Sinn für Humor und dein gefestigter Charakter erklären deinen Reiz.” Egan fuhr fort: “Ganz zu schweigen von deiner tollen Figur.”
    Chloe lachte, aber das Kompliment erwärmte sie.
    Egans Eltern, Dick und Dottie O’Brien, wohnten eine Autostunde nördlich der Stadt, in der Nähe von Slippery Rock. Die Hügel waren flacher geworden, als Chloe und Egan auf eine schneebedeckte Zufahrt einbogen, die sich zwischen Sycamoren und Pappeln wand.
    Unterwegs hatte Egan erklärt, dass er in dieser Gegend nicht aufgewachsen sei. Das Grundstück und das zweistöckige Haus, das jetzt vor ihnen lag, war von seinen Eltern früher nur im Sommer bewohnt worden. Sie waren erst auf Dauer hierhergezogen, als Egans Vater seine Arbeitszeit in der Baufirma, einem Familienbetrieb, eingeschränkt hatte.
    Aber Egan hatte die Sommer hier verbracht. Er war mit seinen drei Brüdern über diese Felder gelaufen, hatte an dem jetzt zugefrorenen kleinen Fluss neben der Auffahrt geangelt. Chloe konnte ihn sich gut vorstellen, wie er mit seiner Familie, umgeben von Liebe, aufgewachsen war und Erfahrungen gemacht hatte, die seine Kindheitserinnerungen angenehm sein ließen. Sie freute sich sehr, dass es solche Orte gab und dort wenigstens einige Kinder groß wurden.
    “Meine Eltern haben keinen aufwändigen Lebensstil”, sagte Egan. “Aber dies hier sind wir, Chloe. Meine Familie ist das, woher ich stamme und was mich geformt hat.”
    “Nun, so schlecht bist du gar nicht geraten. Wenn du hier zu dem Mann geworden bist, den ich kenne, dann ist das ein sehr guter Ort.”
    Egan stellte den Motor ab und sah Chloe überrascht an.
    “Das sagt ein Stadtmädchen?”
    “Das war ich nicht aus freier Wahl, Egan. Es war mein Pech. Jedes Mal, wenn die Jugendbehörde für mich einen Pflegeplatz finden musste, habe ich gebeten, mich auf eine Farm zu schicken.”
    Egan berührte Chloes Wangen. Er freute sich, dass Chloe ihm die Tür zu ihrer Vergangenheit ein wenig geöffnet hatte. “Musstest du so
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