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Gesichter: Roman (German Edition)

Gesichter: Roman (German Edition)

Titel: Gesichter: Roman (German Edition)
Autoren: Andreas Schäfer
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schon aufgestanden und ging Richtung Hafen, wo vor einer Stunde die Fähre abgelegt hatte und jetzt ein alter Mann eine Angel ins Wasser hielt.
    »Beruhige dich!«, sagte Timothy.
    »Aber du hast sie doch gesehen!«
    »Ich habe sie verwechselt! Ich muss sie verwechselt haben.«
    Sie saßen im Wohnzimmer. Er hörte Maureen in der Küche mit dem Geschirr klappern, laut, als wollte sie ihr Gespräch übertönen.
    Gabor begann von vorn: »Hör zu. In dem Augenblick, in dem die Polizei einen Hinweis zur Insel bekommt, glaubst du, sie hier gesehen zu haben.«
    »Zufall.«
    »Im gleichen Moment!«
    »Na und?«
    »Und jetzt komme ich her – und überall laufen Flüchtlinge herum.«
    »Überall gibt es Flüchtlinge, es war nur eine Frage der Zeit, bis sie –«
    Gabor ließ ihn nicht ausreden.
    »Aber ich weiß, dass es einen Zusammenhang gibt. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Neles Verschwinden und dem Auftauchen der Flüchtlinge, ich weiß es, ich kann ihn nur noch nicht erkennen.«
    Timothy schien der Verzweiflung nah. Er stand auf, langsam, als wäre Gabor ein bedrohliches Tier, das er nicht erschrecken wollte, und kam, die Augen fest auf seine geheftet, näher, um ihn zu zwingen, das Unfassbare endlich zu akzeptieren.
    »Nele ist nicht hier, Gabor. Ich habe mich geirrt. Sie ist weg. Kein Mensch weiß, wo sie ist.«
    Es dämmerte bereits, und draußen sah Gabor den Hang mit den niedrigen Sträuchern und weiter oben den Eukalyptusbaum, der Teile ihres Hauses verdeckte. Er sah die Wand aus Feldsteinen und die dunklen Terrakotta-Schindeln des Daches und dachte an die Kälte und die Feuchtigkeit, die aus jeder Ritze in die Räume drangen, und an den Dreck auf dem Boden der Küche, den er am Morgen liegen gelassen hatte.
    »Vielleicht hast du recht«, sagte er.
    Er gab den Widerstand auf. Sobald Timothy den Flaschenhals über seinem Glas neigte, nickte er. Als Maureen, die das Ende ihrer Auseinandersetzung in der Küche abgewartet hatte, mit einer Käseplatte ins Zimmer kam, griff er zu. Er tat, was sie von ihm wünschten: Er ließ sich auf andere Gedanken bringen. Er war präsent, er hörte zu, er lachte sogar, den Arm auf die Rückenlehne des Sofas gelegt, als Maureen vom Ende ihrer Abwassersorgen berichtete. Doch während sie eine neue Flasche Wein aus der Küche holte, fragte er Timothy erneut nach den Flüchtlingen und was das, was er bei Prekas beobachtet hatte, zu bedeuten habe. Timothy musterte ihn argwöhnisch, fand aber offenbar weder Hinterlist noch einen Verdacht wieder aufflammender Paranoia.
    »Nichts. Sie bleiben ein paar Tage und fahren dann weiter nach Athen.«
    »Ohne Tickets? Die Reedereien haben sich bereit erklärt, sie kostenlos nach Piräus zu befördern?«
    Maureen, die schon wieder am Sofa stand, sagte: »Wir. Wir alle bezahlen die Reedereien dafür, dass die armen Schweine unsere Insel so schnell wie möglich wieder verlassen.«
    Er lag im Gästezimmer und hörte Maureen und Timothy über sich umhergehen und ihre gedämpften fernen Stimmen. Er hörte Wasser durch Rohre rauschen, eine Tür schnappte und in der Stille danach fiel ihm das Pfeifen des Windes auf, ein an- und abschwellendes Singen, das von so weit oben zu kommen schien, als läge er tief in der Erde.
    Du bist noch immer dort unten. Du bist niemals wieder hochgekommen .
    Gabor sah sich selbst in der künstlichen Beleuchtung eines Fährgangs stehen, nachdem er Nele zur Kabine begleitet hatte. Seine Hand am Knauf, während ein betrunkener Mann in seiner Kabine verschwindet. Sein Zögern, der Schwindel, der ihn ergreift. In seiner Vorstellung zwang er sich, zu widerstehen, dem Drang nicht nachzugeben, als ließe sich auf diese Weise all das rückgängig machen, was danach geschehen war.
    Er musste eingeschlafen sein, denn als er aufschreckte, war der Himmel von einem tiefen Blau. Im Stockwerk über ihm war es still. Eine Weile lauschte er dem leisen Wind, dann stand er auf und ging über die kalten Fliesen ans Fenster. Die niedrigen Olivenbäume wirkten im ersten Moment wie aufgespannte Sonnenschirme. Am Ende des Gartens zerteilte eine Schieferstufe den Hang, als wäre der Berg auf dieser Seite vor Ewigkeiten einen Meter nach unten gesackt. Dahinter sah er die Feldsteinmauer, die ihr eigenes Grundstück umlief. Er blickte hinauf zu ihrem dunklen Haus, konnte sogar die Erhebung des Steinkreises ausmachen, in dem vor langer Zeit monoton im Kreis stapfende Esel Getreide zermahlen haben. Der Sohn des verstorbenen Bauern, von dem sie es
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