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Geschichten von der Bibel

Geschichten von der Bibel

Titel: Geschichten von der Bibel
Autoren: Michael Köhlmeier
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heißt es an dritter Stelle: »Du sollst dich nicht vor den anderen Göttern niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen. Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott.«
    Warum sollte er eifersüchtig sein, wenn es ohnehin nur ihn gab?
    Oder noch deutlicher im fünften Buch Mose, dem sogenannten Deuteronomium. Da heißt es: »Denn der Herr, euer Gott, ist der Gott über den Göttern und der Herr über den Herren.«
    Oder: Gott wird in der Genesis entweder Jahwe genannt oder Elohim. Elohim ist der Plural von El, und man kann es drehen und wenden wie man will: Elohim heißt »die Götter«.
    Die Doktrin des Ein-Gott-Glaubens führte dazu, daß alles – oder eben fast alles! – aussortiert wurde, was an Vielgötterei erinnerte. Deshalb wirkt die Schöpfungsgeschichte in der Bibel so abstrakt, so dürr.
    Aber worauf der Theologe seinen Bannstrahl richtet – und wofür der Historiker ohnehin nur ein Achselzucken übrig hat –, dort vermutet der Mythologe, der Erzähler, Interessantes …
    Die biblischen Geschichten waren eingebettet und erwuchsen aus einem mythischen Umfeld. Zu diesem Umfeld gehört auch »Enuma Elisch«, das babylonische Schöpfungsgedicht. Seine Entstehung datiert um 1700 vor Christus. Aus diesem Gedicht kann man die folgende Geschichte erfahren.
    Am Anfang waren Apsu, der Vater, und Tiamat, die Mutter. Tiamat war das Meer, das salzhaltige Wasser. Sie war geschmückt und umgeben von einem Mantel. Dieser Mantel war die Erde. Die Erde war ihr Hochzeitskleid.
    Apsu, ihr Gemahl, ihr Geliebter, war das süße Wasser, das Wasser des Himmels. Sein Hochzeitskleid waren die Wolken. Und wenn sich Apsu und Tiamat einander entgegenneigten, wenn sie sich liebten, dann fiel der Regen auf die fruchtbare Erde, und aus der Erde wuchsen die Blumen und die Bäume und die Gräser und die Früchte an den Bäumen.
    Und wenn Apsu seine Geliebte Tiamat umarmte und wenn er sich auf sie niederlegte und sie miteinander schliefen, dann wurde Tiamat jedesmal schwanger. Und sie gebar jedesmal ein Wesen. Und jedes Wesen war von neuer Art und unvergleichlich und hatte nichts zu tun mit den Wesen, die schon geboren waren, und nichts mit den Wesen, die noch geboren wurden. Alles, was ist bis zum heutigen Tag, ist damals geworden. – Fast alles …
    Es waren Wesen in einem larvenhaften Zustand. Man könnte sagen: in einem Zustand der Idee. Natürlich fällt mir Platons Ideenlehre ein, nämlich daß vor den Dingen in ihrer Konkretheit bereits die abstrakten Ideen waren. Und diese Ideen wurden von Apsu und Tiamat geschaffen.
    Es waren große Ideen darunter – die Idee der Liebe, die Idee des Krieges, die Idee des Todes, die Idee der Hoffnung, die Idee des Lichts, die Idee der Zeit. Aber auch die Ideen ganz banaler Dinge waren darunter, wie die Idee eines Tisches oder die Idee des Dreiecks, die Idee des Tannenzapfens, der Fahrradglocke, des Schnürsenkels, des Computerchips. Alles, was je werden wird, wurde damals in ideenhafter Form vorgeprägt.
    Diese Ideen bevölkerten die Erde, bevölkerten das Meer, die Lüfte. Und sie machten Lärm. Die waren laut. Sie stritten sich um die besten Plätze. Sie waren aufmüpfig. Vorlaut waren sie. Rücksichtslos. Sie waren nicht Bruder und Schwester. Sie bestanden jeder für sich. Jede Idee war eine Welt. Jede Welt stritt gegen die andere.
    Irgendwann wurde es dem Vater Apsu zuviel. Es wurde ihm zu laut. Er sehnte sich zurück nach der Zeit, als er mit seiner Geliebten, mit seiner Gemahlin Tiamat, allein gewesen war. Er besprach sich mit Tiamat.
    »Was haben wir mit denen zu schaffen?« fragte er.
    »Ich habe sie geboren«, sagte Tiamat. »Du hast sie gezeugt.«
    »Aber lieben wir sie deshalb?« fragte er.
    »Nein«, sagte sie.
    Und sie beschlossen, all diese Wesen wieder aus ihrer Welt zu entfernen.
    Sie sagten sich: »Wir werden unsere Wasser heftig vereinen.«
    »Du, Tiamat, läßt das Meer steigen«, sagte Apsu.
    »Du, Apsu, läßt all deinen Regen fallen«, sagte Tiamat.
    Sie planten so etwas wie die erste Sintflut. Sie brachten die Idee der Sintflut hervor. Denn nichts anderes als hervorbringen konnten sie. Jedes Wort war eine Hervorbringung. Und jedes Wort war im Grunde erst die Idee dieses Wortes.
    Sie wollten all diese Wesen in ihren Wassern ertränken und von nun an schweigen und lieben.
    Aber da gab es einige Wesen, die bereits relativ gut ausgebildet waren. Zum Beispiel die Idee des Aufruhrs. Wenn ich sage, dieses Wesen war relativ gut ausgebildet, dann
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