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Geschichten aus der Murkelei

Titel: Geschichten aus der Murkelei
Autoren: Hans Fallada
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über seinem Kopf saß eine große Ameise und funkelte es mit ihren Augen an. »Und
     wo ist der Mäuserich?« fragte das Mäusecken die große Ameise.
    »Der sitzt dir grade gegenüber in der Dachrinne und läßt den Schwanz auf die Straße hängen«, sagte die Ameise.
    Wackelohr sah hinaus, und wirklich saß drüben in der Dachrinne ein schöner Mäusejunge mit einem kräftigen Schnurrbart, ließ
     den Schwanz über die Rinne hängen und sah die Straße auf und ab. »Warum sitzt er denn da, du Ameise?« fragte Wackelohr. »Er
     kann doch fallen, und dann ist er tot!«
    »Nun, er langweilt sich wohl auch«, antwortete die Ameise. »So hält er ein bißchen Ausschau, ob er ein Mäusecken auf der Straße
     sehen kann.«
    Da bat Wackelohr: »Ach, liebste Ameise, sage mir doch einen Weg, wie ich zu ihm kommen kann. Ich will dir auch all meinen
     Speck schenken.«
    Die Ameise strich sich nachdenklich ihren kräftigen Unterkiefer mit den beiden Vorderbeinen, juckte sich mit den Hinterbeinen
     und sprach: »Deinen Speck will ich nicht, ich esse lieber Zucker und Honig und Marmelade. Und einen Weg zu dem Mäuserich weiß
     ich auch nicht für dich. Ich gehe immer durch das Schlüsselloch, und dafür bist du zu groß.«
    Wackelohr aber bat und bettelte, und schließlich versprach die Ameise, sich bis zum nächsten Abend zu überlegen, wie Wackelohr
     zu seinem Mäuserich kommen könnte.
    Am nächsten Abend traf Mäusecken die Ameise wieder in der Speisekammer und fragte sie, ob sie nun wohl einen Weg wisse. »Vielleicht
     weiß ich einen Weg«, sagte die kluge |15| Ameise, »aber ehe ich dir den sage, mußt du mir einen Zuckerbonbon schenken.«
    »Ach!« rief Wackelohr, »woher soll ich den denn nehmen? Der einzige Zuckerbonbon, von dem ich weiß, liegt auf dem Nachttisch
     der Hausfrau. Den lutscht sie immer, wenn sie morgens aufwacht, damit der Tag ihr gleich süß schmeckt.«
    »Nun, so hole den doch!« sagte die Ameise kaltblütig.
    »Den kann ich doch nicht holen«, rief das Mäusecken traurig. »In dem Schlafzimmer schläft ja auch die alte böse Katze, die
     meine Eltern und Brüder und Schwestern geholt hat. Wenn die mich hört, mordet sie mich bestimmt.«
    »Das mußt du wissen, wie du es machst«, sagte die Ameise ungerührt. »Bekomme ich den Bonbon nicht, erfährst du den Weg nicht
     zu deinem Mäuserich.«
    Da half Wackelohr kein Bitten und kein Weinen und kein Flehen, ohne den Bonbon wollte die Ameise ihm nichts sagen. Also ging
     Mäusecken auf seinen leisesten Pfoten aus der Speisekammer in die Küche, und aus der Küche in das Eßzimmer, und aus dem Eßzimmer
     in das Arbeitszimmer, und aus dem Arbeitszimmer auf den Flur. Auf dem Flur aber machte es seine Pfoten womöglich noch leiser
     und wutschte, sachte, sachte, still in das Schlafzimmer.
    Im Schlafzimmer war es für Menschenaugen ganz dunkel, weil die Vorhänge zugezogen waren. Aber Mäuse haben Augen, die besonders
     gut im Dunkeln sehen können. Und so sah Wackelohr denn, daß – o Schreck! – seine Feindin, die Katze, nicht schlief. Sondern
     sie lag auf einem schönen Kissen grade vor dem Bett, an dem das Mäusecken vorbei mußte, wenn es zum Nachttisch mit dem Bonbon
     wollte, dehnte und streckte sich und leckte das Maul, als wäre sie noch hungrig.
    Wie Mäusecken das sah, konnte es nicht anders: Es mußte vor Schreck quieken. Sprach die Katze: »Hier ist wohl eine Maus im
     Zimmer? Ich dachte, ich hätte alle Mäuse in diesem |16| Hause längst totgemacht. Nun, wenn noch eine Maus da ist, werde ich sie gleich haben.« Und sie streckte sich, um aufzustehen.
    In seiner Angst bat das Mäusecken den Stuhl, unter dem es saß: »Ach, lieber Stuhl, knarre ein wenig. Dann denkt die Katze,
     es war nur Stuhlknarren und kein Mäusequieken.« Und der Stuhl tat dem Mäusecken den Gefallen und knarrte ein wenig. Die Katze
     aber legte sich wieder hin und sprach: »Ach so, es hat bloß ein Stuhl geknarrt. Ich dachte schon, es wäre eine Maus. Aber
     wenn es bloß ein Stuhl ist, kann ich ruhig schlafen.« Und damit streckte sich die Katze aus und schlief ein.
    Was sollte Wackelohr tun? Direkt an der bösen Feindin vorbei zum Nachttisch zu gehen, dazu fehlte ihr der Mut. Sie fürchtete,
     sie würde vor Angst mit ihren Nägeln auf dem Fußboden klappern und dadurch die Katze aufwecken. Den Bonbon aber mußte sie
     kriegen, sonst erfuhr sie den Weg zum Mäuserich nicht. Da beschloß Wackelohr, über das Bett zu laufen und vom Kopfkissen auf
     den Nachttisch zu
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