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Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)

Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)

Titel: Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)
Autoren: Jürgen Osterhammel , Emily S. Rosenberg , Akira Iriye
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zu «Stummheit» und Subjektivitäten in der Geschichtswissenschaft aufgeworfen und die Gegenden und Menschen als historische Akteure sichtbar gemacht, die von der früheren Forschung als peripher und reaktiv präsentiert wurden. Zudem hat der sogenannte cultural turn Methoden zur Verfügung gestellt, um mit der diskursiven Erzeugung von Wirklichkeit, mit der Standortgebundenheit und mit Bedeutungsvielfalt umgehen zu können. Insbesondere ein stärkeres Gefühl für Sprache und Symbole hat Historiker dazu ermutigt, Wörter wie «Fortschritt» oder «Reform» ebenso genauer zu hinterfragen wie die Prozesse, durch die Kategorien in Bezug auf Nation, Geschlecht, Rasse, Ethnizität, Religion und anderes zustande kommen. Und schließlich haben Anthropologen wie James Clifford und Arjun Appadurai die Historiker dazu animiert, Kultur stärker relational und weniger als ortsbezogenes, kohärentes oder in sich abgeschlossenes Phänomen zu betrachten. Ihr Ansatz beschäftigt sich mit Prozessen und weniger mit Wesensgehalten und hat gezeigt, dass die Konnektivitäten der Moderne gleichzeitig für Homogenität und für Differenz gesorgt haben. Aus Gründen der Lesbarkeit werden die theoretischen Wendungen der letzten Jahrzehnte in unseren Beiträgen nicht ausführlich thematisiert, doch stehen solche Strömungen und die davon beeinflusste Forschung stets im Hintergrund.
    Andere wichtige Merkmale der Zeit zwischen 1870 und 1945 haben mit der Ausbreitung des globalen Urbanismus und mit dem Aufkommen unterschiedlicher Vorstellungen von Moderne zu tun. Auf allen Kontinenten begannen Städte damit, sich ihrer Elektrifizierung, ihrer Abwassersysteme, ihrer modernisierten Häfen und Transitwege, ihrer Kinos und anderer Attribute einer Kultur des Massenkonsums zu rühmen. Hinter diesen Veränderungen machten moderne Staaten mobil und sahen ihre Rolle darin, bei der Umsetzung und Begründung der ungeheuren Veränderungen zu helfen, die mit der Mechanisierung und Mediatisierung einhergingen.[ 5 ] Internationale Standards für Zeit und Maße breiteten sich aus und mit ihnen die Hoffnungen (und Befürchtungen), es könnten universal gültige internationale Gesetze und Werte entstehen. Wie insbesondere mein Beitrag betont, entwickelten Stilformen, Geschmacksvorlieben, Handelswaren (oftmals Markenwaren) sowie wissenschaftliches und technisches Expertentum jeglicher Art selbst über große Entfernungen hinweg oberflächliche Ähnlichkeiten. Doch trotz des Phänomens der urbanen Moderne und trotz der Konvergenztheorien, die häufig mit solch sichtbaren materiellen Attributen einhergehen, haben Historiker zunehmend erkannt, dass die Praktiken der Moderne im Rahmen ihrer globalen Zirkulation kulturspezifische Formen ausbildeten.
    Unsere Kapitel zeigen, dass aus unterschiedlichen historischen und geographischen Gegebenheiten vielfältige Ansichten darüber entstanden, wie man Staaten, Imperial- oder Globalordnungen organisieren sollte. Oftmals konkurrierten Weltanschauungen miteinander, mitunter auf höchst ungleichem Terrain. In anderen Fällen zehrten die Zielsetzungen der Moderne wechselseitig voneinander, sorgten jedoch auch für Auseinandersetzungen darüber, welche Gruppen nun genau dominant sein sollten. Überdies lebte die Mehrheit der Weltbevölkerung noch immer auf dem Land und war in unterschiedlichem Maße von der Vernetzung betroffen, die in den kosmopolitischen Städten so deutlich zutage trat. Die kommerziellen Revolutionen, die immer stärker auch den ländlichen Raum erfassten, wie fast alle Kapitel betonen, hatten weitreichende Folgen für Staatsaufbau, empire building , Migration und Warenaustausch. Doch die technologische Moderne und die Staatsbildung, die als zentrale Merkmale dieser Epoche galten, erwiesen sich als kulturell unterschiedlich und hatten, was ihr Veränderungspotential betrifft, höchst ungleichmäßige Auswirkungen. Eine Reaktion – auf die vor allem James C. Scott immer wieder hingewiesen hat, unter anderem in seinem Buch The Art of Not Being Governed – konnte darin bestehen, dass man sich in die «Berge» oder andere nicht-staatliche Räume zurückzog und eine Art «Kunst» darin entwickelte, von sich ausbreitenden politischen Strukturen und Märkten nicht regiert zu werden.[ 6 ]
    Die folgenden Kapitel machen auch deutlich, dass universalistische Ideen einer künftigen globalen Ordnung der Moderne begleitet waren von hochgradig partikularistischen Ideologien des Ethnonationalismus und Kulturessentialismus.
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