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Geschichte der deutschen Wiedervereinigung

Geschichte der deutschen Wiedervereinigung

Titel: Geschichte der deutschen Wiedervereinigung
Autoren: Andreas Rödder
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Satellitenstaaten in Ostmittel- und Südosteuropa sowie mit dem Krieg in Afghanistan gigantische Kosten aufgeladen, die immer noch weiter zu wachsen drohten.
    1988 ordnete Gorbatschow den Rückzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan an. Zugleich setzte er auf Entspannung mit dem Westen; eine abrüstungspolitische Offensive hatte bereits im Dezember 1987 zu einem Abkommen mit den USA über den vollständigen beiderseitigen Abbau der atomaren Mittelstreckenraketen geführt – über deren Stationierung Ost und West keine zehn Jahre zuvor in einen «zweiten Kalten Krieg» (Fred Halliday) geraten waren. Schließlich verkündete Gorbatschow anstelle des unüberbrückbaren Gegensatzes der Ideologien die Vision vom «Haus Europa», in dem verschiedene Systeme unter einem gemeinsamen Dach Platz finden sollten. Vor den Vereinten Nationen in New York sprach er Ende 1988 von einer «Entideologisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen», von der «Verbindlichkeit des Prinzips der freien Wahl» und vom Verzicht auf die «Anmaßungen auf unangefochtene Wahrheit» sowie auf Gewalt und Gewaltandrohung.
    Dies war nicht weniger als ein epochaler Wandel des Sowjetkommunismus, der seit 1917 den weltrevolutionären Anspruch auf universelle Verbreitung und Gültigkeit erhoben hatte. Von schlechterdings grundstürzender Bedeutung war er vor allem für die ostmittel- und südosteuropäischen Staaten des Warschauer Pakts, denn gerade sie waren auf den sowjetischenKommunismus im Innern und auf die sowjetische Vormacht nach außen verpflichtet worden. Und für den Fall des Abweichens hatte die Breschnew-Doktrin militärische Intervention angedroht, wie sie in der DDR 1953, in Ungarn 1956 und in der Tschechoslowakei 1968 auch vollzogen worden war.
    Nun verkündete Gorbatschow Wahlfreiheit und Gewaltverzicht, und Anfang Juli 1989 beschlossen die Regierungschefs der Warschauer-Pakt-Staaten ganz formell, dass «jedes Volk selbst das Schicksal seines Landes bestimmt und das Recht hat, selbst das gesellschaftspolitische und ökonomische System, die staatliche Ordnung, die es für sich als geeignet betrachtet, zu wählen». Was dies konkret bedeutete, war für die Zeitgenossen freilich weniger klar, als es aus der Rückschau erscheint. Von «Selbstbestimmung» war auch schon früher die Rede gewesen, aber wie sie sich mit dem leninschen Geist vertragen sollte, von dem Gorbatschow ebenfalls sprach, war ebenso wenig klar wie die Antwort auf die Frage, ob sie nur für die kommunistischen Parteien oder für die gesamte Bevölkerung gelten solle. Angesichts der beinahe zwei Generationen währenden Erfahrungen mit der sowjetischen Herrschaft blieb bis weit in den Herbst des Jahres 1989 hinein ein großer Rest an Unsicherheit, wie der Kreml wirklich reagieren würde, wenn die Machtfrage gestellt wurde.
    Die Antwort lautete schließlich: praktisch gar nicht, jedenfalls nicht außerhalb der sowjetischen Grenzen. Nachdem seine Reformpolitik den welthistorischen Umbruch erst möglich gemacht hatte, reagierte Gorbatschow in dem Moment, da ihm die Kontrolle über den Prozess entglitt und dieser auf das Gegenteil des Gewollten zusteuerte, mit einer zweiten Entscheidung von historischer Tragweite: dem «spektakulären Nicht-Gebrauch von Gewalt» (Vladislav Zubok). Nun spricht manches dagegen, dass eine militärische Intervention 1989 überhaupt eine realistische Option dargestellt hätte: Sie wäre höchst riskant gewesen, und was hätte Moskau gewinnen wollen? Dennoch war eine Entladung von Gewalt, zumal nach den historischen Erfahrungen und angesichts der gewaltsamen Niederschlagung der chinesischen Opposition im Juni 1989, keineswegsausgeschlossen – im Gegenteil, der weitgehend friedliche Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums war das eigentliche Mirakel von 1989/90.
    Gorbatschow war vollauf mit den ständig wachsenden Problemen innerhalb der Sowjetunion beschäftigt, und zugleich mangelte es ihm an einer realistischen Situationsanalyse ebenso wie an einer klaren Perspektive. Sein Berater Anatoli Tschernjajew notierte im Frühjahr 1989: «Er hat keine Vorstellung, wohin wir gehen. Seine Erklärungen über sozialistische Werte, die Ideale des Oktober, die er abzuhaken beginnt, klingen für die Experten wie Ironie. Hinter ihnen – Leere.» Offenkundig war die Reformpolitik mit frappierender Naivität im Hinblick auf ihre Folgewirkungen angegangen worden. Gorbatschow hatte erwartet, dass die Staaten des sowjetischen Machtbereichs ihre Freiheit
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