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Geschichte der deutschen Wiedervereinigung

Geschichte der deutschen Wiedervereinigung

Titel: Geschichte der deutschen Wiedervereinigung
Autoren: Andreas Rödder
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allerdings in einer eigentümlichen Spaltung der Lebensführung. Im öffentlichen Raum praktizierten die meisten Ostdeutschen Konformität, während sie sich getrennt davon Parallelwelten privater Rückzugsräume und begrenzter Autonomie schufen.
    Mit der Verschlechterung der Versorgungslage zerfiel diese Form von «Normalisierung» (Mary Fulbrook). Während sich einerseits zunehmende Resignation breitmachte, hielt der Direktor des Leipziger Zentralinstituts für Jugendforschung 1988 in einer internen Expertise fest: Die Menschen forderten zunehmend «Anerkennung ihrer Ansprüche und Persönlichkeit», ihrer Individualität und Selbstbestimmung und auch «Lebensgenuss» ein und wendeten sich gegen entmündigende «Bevormundung».Dies war dem Wertewandel nicht unähnlich, der sich in den westlichen Gesellschaften seit den sechziger Jahren vollzogen hatte, und er war auch, so Walter Friedrich, aus dem Westen über die Grenzen geschwappt.
    Darin wiederum lag, wie bereits erwähnt, ein weiteres Strukturproblem der DDR: die ständige Präsenz der Bundesrepublik als Gegenbild zur DDR, vor allem durch das Westfernsehen. Vergleichsmaßstab für die Ostdeutschen waren daher nicht die anderen Staaten des Warschauer Paktes, unter denen die DDR das wohlhabendste Land war, sondern die reiche und gerade am Ende der achtziger Jahre boomende Bundesrepublik, der gegenüber die Versorgungsmängel und der niedrige Lebensstandard scharf ins Auge stachen.
    Westliche Lebensformen infiltrierten die DDR, vor allem als unerfüllte Verheißung. So stieg die Zahl der Ausreiseanträge, trotz der für den Einzelnen zu erwartenden Repressionen, in den achtziger Jahren sprunghaft an: von 21.500 im Jahr 1980 auf über 110.000 acht Jahre später. Dass die DDR-Führung in höherer Zahl Ausreisen genehmigte, öffnete dabei kein Ventil, sondern verstärkte den Druck, anstatt ihn abzulassen.
    Die Herrschaft der SED war nie durch freie Wahlen legitimiert worden – wozu auch: die Partei erhob den Anspruch, immer Recht zu haben. Darin lag ihr antipluralistischer, totalitärer Kern, und daher wurde Dissens nicht als Opposition geduldet, sondern als Abweichung unterdrückt: «Feind ist, wer anders denkt», lautete die Devise des Ministeriums für Staatssicherheit, das zu diesem Zweck immer weiter ausgebaut worden war.
    Repression war die eine Seite des SED-Regimes; zugleich aber suchte es auch die Zustimmung der Bevölkerung, und daher wurde Konformität belohnt: durch gesellschaftliche Aufstiegschancen und vor allem durch eine allumfassende soziale Sicherung, wenn auch auf – im Vergleich zur Bundesrepublik – niedrigem Niveau. Daher stellte die Verschlechterung der Versorgungslage ein echtes Legitimationsproblem dar. Vor diesem Hintergrund heischte die SED-Führung nach Bestätigung, und so wurden die Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 zu einem Legitimationsbeweishochstilisiert. Die Ergebnisse waren dann wie üblich gefälscht. Blieben schon die offiziell verkündeten 98,85 Prozent unter der sonst üblichen 99-Prozent-Marke, so lag der tatsächliche Anteil der Gegenstimmen – bei nicht geheimer Wahl – zwischen 10 und 20 Prozent. Dies war die Initialzündung für die Opposition, die sich im Gefolge der Kommunalwahlen neu und breiter formierte als je zuvor.
3. Oppositionsbewegung und Führungskrise
    Oppositionelle sammelten sich in den achtziger Jahren vor allem im Umfeld der evangelischen Kirchen, zunächst als Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen, in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts dann, unter dem Eindruck von Gorbatschows Reformpolitik, als Demokratiebewegung. Mit einem Mobilisierungspotential von höchstens 5000 Personen war sie vorderhand keine wirkungsvolle politische Kraft. Nichtsdestoweniger fürchtete das Regime, so der stellvertretende Minister für Staatssicherheit im Jahr 1985, einen «Durchbruch im Sinne des politischen Pluralismus nach bürgerlichem Muster im Sinne der sogenannten Liberalisierung und Destabilisierung der politischen Machtverhältnisse», wenn es «auch nur einer dieser Gruppierungen» gelänge, «sich als legale Einrichtung zu etablieren». Daher versuchte die Staatsmacht, die oppositionellen Gruppen von innen her zu zersetzen, und griff spätestens angesichts der wachsenden Präsenz oppositioneller Kräfte seit Ende 1987 zu verschärfter Unterdrückung.
    Diese ließen sich allerdings je länger, je weniger entmutigen – im Gegenteil. Am Tag der Kommunalwahlen zogen kritische Bürger in den Wahllokalen auf,
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