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Gesang des Drachen

Gesang des Drachen

Titel: Gesang des Drachen
Autoren: Claudia Kern
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auf, die Elfen freiwillig, die meisten Menschen unter der Aufsicht einer Gruppe, die Luca als »Sittenpolizei« bezeichnet hatte. Ihre weißen Kopftücher unterschieden sie von allen anderen. Peddyr hielt sich fern von ihnen. Sie erinnerten ihn an die Priester, die in seinem alten Dorf darüber bestimmt hatten, wer was tun durfte – und wer verflucht war.
    Ich zum Beispiel, dachte er und schüttelte sich, um den Gedanken zu vertreiben. Sein altes Dorf existierte nicht mehr, und die Priester lebten nur noch in seiner Erinnerung. Sie vermisste er nicht, Luca schon. Der einzige Freund, den er unter den Menschen gefunden hatte, war während der Wirren des Angriffes verschwunden. Was aus ihm geworden war und ob er noch lebte, wusste Peddyr nicht.
    Auch diesen Gedanken schüttelte er ab. Stattdessen konzentrierte er sich wieder auf die Lichtung und beobachtete die Menschen dort. Das war seine Aufgabe, und er nahm sie ernst. Einen Steinwurf von ihm entfernt hatten rund ein Dutzend Menschen ein Lager unter freiem Himmel errichtet. Das waren die Vertriebenen, Ungläubige, die Rimmzahn aus ihren Hütten gejagt hatte, um Platz für seine Anhänger zu schaffen. Sie lebten nun am Rande der Siedlung und mussten unter freiem Himmel schlafen. Es war nachts erstaunlich angenehm warm, aber die dünnen Decken schützten weder vor der Nässe noch dem harten Boden. Peddyr sah einige Menschen, die er kannte, auch wenn er ihre Namen nicht wusste. Er hätte ihnen Höhlen zeigen können und die Stellen am Fluss, an denen weiches Moos wuchs, doch dafür hätte er sie ansprechen müssen – und das wagte er nicht.
    Die Unsichtbarkeit war seine Stärke, das hatte Bricius gesagt. Niemand beachtete ihn, solange er nicht auf sich aufmerksam machte. Das Gleiche galt für seine Freunde. Sie waren Ausgestoßene, die weder bei den Elfen noch bei den Menschen willkommen waren. Unter diesen Umständen war das ein Vorteil.
    Peddyr hob den Kopf, als er lauten Gesang hörte. Die Frühstücksgruppe kehrte aus dem Gemeinschaftssaal der Elfen zurück. Erschrocken bemerkte Peddyr, wie groß sie bereits geworden war. Hunderte kamen ihm entgegen, lächelnd und singend, mit stumpfem, leerem Blick. Sittenpolizisten umgaben sie und stießen mit den langen Stöcken, die sie seit dem Angriff auf den Schattenlord trugen, ab und zu diejenigen an, die nicht breit genug lächelten oder nicht laut genug sangen.
    Schlechte Laune zu haben war zu einem Verbrechen geworden.
    Die Frühstücksgruppe bestand nicht nur aus Reinblütigen, sondern auch aus Flüchtlingen. Sogar einige Iolair entdeckte Peddyr zwischen ihnen. Vielleicht hatten sie sich den Gläubigen aus Opportunismus angeschlossen, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis der Schattenlord auch in ihren Geist eindrang. Niemand konnte sich ihm auf Dauer widersetzen.
    Peddyr schluckte, als er die Karren sah, die einige hinter sich herzogen. Sie waren voller Waffen und Rüstungsteilen, die vermutlich aus den Beständen der Iolair stammten. Jemand, wahrscheinlich einer der neu Konvertierten, musste den Gläubigen gezeigt haben, wo sie gelagert wurden.
    Die Sittenpolizisten teilten die Gruppe in mehrere, kleinere Einheiten auf und erklärten den Trupps, was ihre Aufgaben an diesem Tag waren. Das war eine weitere Eigenart der Gläubigen, die Peddyr aufgefallen war: Sie waren nie allein. Alle Aufgaben wurden in Gruppen erledigt. Man arbeitete gemeinsam, aß gemeinsam und schlief sogar gemeinsam. Unter dem Vorwand, seit dem Sturm gäbe es nicht mehr genügend Unterkünfte, hatte man allen Zimmergenossen zugeteilt. Nur Rimmzahn wurde davon ausgenommen.
    Aber auch er war nicht allein.
    Unwillkürlich warf Peddyr einen Blick auf Rimmzahns Hütte. Die Tür war geschlossen, die Fenster hatte man mit Stoffresten verhängt. Der Anführer der Gläubigen, ihr Prophet, stand in letzter Zeit sehr spät auf, manchmal nicht vor Mittag. Peddyr fragte sich, ob der andere wohl bei ihm war, während er schlief. Der Gedanke verstörte ihn.
    Er wartete, bis sich die Lichtung leerte, dann sprang er mit einem langen Satz von seinem Ast und landete weich auf dem Boden. Einige Elfen, die in der Nähe mit Äxten einen Baumstamm auseinanderhackten, sahen kurz auf, widmeten sich aber sofort wieder ihrer Arbeit.
    Unsichtbar, dachte Peddyr. Trotzdem wurde er nicht leichtsinnig, sondern blieb am Rand der Lichtung, dort, wo sie in den Wald überging. Er umrundete das Dorf der Menschen und machte sich auf den Weg hinauf zum Höhlenlabyrinth, in dem der
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