Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Germinal

Germinal

Titel: Germinal
Autoren: Emile Zola
Vom Netzwerk:
wenn der Alte nicht da wäre und die Kleinen ...«
    In langsamem, müdem Tone fuhr sie fort; sie entschuldigte sich nicht, sie erzählte bloß die Dinge: daß sie schier vor Hunger umgekommen seien, und daß sie sich endlich entschlossen habe, die Arbeit aufzunehmen, damit man sie nicht aus dem Dorfe vertreibe.
    »Wie geht es dem Alten?« fragte Etienne.
    »Er verhält sich immer still und anständig, aber mit seinem Verstand ist es aus ... Wegen seines Verbrechens hat man ihn nicht verurteilt. Es war davon die Rede, ihn in ein Irrenhaus zu stecken, aber ich wollte es nicht; man hätte ihn dort vergiftet. Seine Geschichte hat immerhin viel Verdruß verursacht. Er wird niemals seine Pension bekommen; einer der Herren sagte mir, es sei unmoralisch, wenn man ihm eine Pension gebe.«
    »Arbeitet Johannes?«
    »Ja; die Herren haben für ihn eine Tagesarbeit gefunden; er erwirbt dabei zwanzig Sous. Ich beklage mich nicht; die Herren haben sich gütig gezeigt, wie sie selbst es mir erklärten. Die zwanzig Sous meines Jungen und meine dreißig dazu geben fünfzig Sous. Wären wir nicht unser Sechs im Hause, würde man sich sattessen können. Estelle ißt jetzt auch schon, und das Schlimmste ist, daß man noch vier bis fünf Jahre warten muß, ehe Leonore und Heinrich stark genug sind, in die Grube hinabzusteigen.«
    Etienne konnte eine schmerzliche Gebärde nicht unterdrücken.
    »Auch sie!« rief er.
    Eine helle Röte war in die fahlen Wangen der Frau Maheu aufgestiegen, während ihre Augen sich belebten.
    Doch sie senkte die Schultern wieder, gleichsam erdrückt von der Last des Geschickes.
    »Was willst du?« Sie nach den übrigen ... Alle haben die Glieder dabei gelassen. Jetzt sind sie an der Reihe.«
    Sie schwieg. Es kamen Stößer mit vollen Karren vorüber und störten sie im Gespräche. Durch die großen, staubigen Fenster drang das Tageslicht ein und hüllte die Laternen in einen grauen Schein. Alle drei Minuten kam die Maschine wieder in Bewegung, die Kabel rollten sich ab, die Schalen fuhren fort, Menschen zu verschlingen.
    »Vorwärts, Müßiggänger, beeilt euch!« rief Pierron. »Einsteigen, einsteigen! Wir werden heute nicht fertig.«
    Die Maheu, die er besonders anschaute, rührte sich nicht. Sie hatte schon drei Schalen hinabsteigen lassen und sagte, gleichsam aus einem Traum erwachend und der ersten Worte Etiennes sich erinnernd:
    »Also, du gehst?«
    »Ja, heute morgen.«
    »Du hast recht, besser anderswo sein, wenn man es kann .... Es freut mich, dich noch einmal gesehen zu haben; du weißt wenigstens, daß ich keinen Groll gegen dich hege. Nach dem Gemetzel war ich einen Augenblick in der Stimmung, dich zu erwürgen; doch man überlegt die Dinge, nicht wahr? Und man findet schließlich, daß niemand schuld daran ist. Nein, nein, es war nicht deine Schuld, es war die Schuld aller Welt.«
    Sie sprach jetzt ganz ruhig von ihren Toten, von ihrem Manne, von Zacharias, von Katharina; die Tränen erschienen in ihren Augen erst dann, als sie den Namen Alzire aussprach. Sie hatte die Ruhe einer verständigen Frau wiedergewonnen und urteilte sehr klug über alle Dinge. Es wird den Spießbürgern kein Glück bringen, so viele arme Leute getötet zu haben; auch sie werden eines Tages bestraft; denn alles wird schließlich vergolten. Man wird es gar nicht nötig haben, sich einzumengen, die Bude wird von selbst in die Luft fliegen; die Soldaten werden auf die Herren schießen, wie sie auf die Arbeiter geschossen haben. In ihrer hundertjährigen Ergebung, in der ererbten Disziplin, die sie von neuem in das Joch beugte, war sie zu diesen Erwägungen gelangt, zu der Gewißheit, daß die Ungerechtigkeit nicht länger andauern könne, und daß, wenn es keinen gerechten Gott gebe, ein anderer erstehen werde, um die Armen und Elenden zu rächen.
    Sie sprach leise, mit mißtrauischen Blicken. Weil Pierron sich näherte, fügte sie laut hinzu:
    »Wenn du abreisest, mußt du bei uns deine Sachen abholen ... Es sind noch zwei Hemden da, drei Taschentücher, eine alte Hose.«
    Etienne lehnte es mit einer Handbewegung ab, diese geringen Habseligkeiten zurückzunehmen, die merkwürdigerweise dem Trödler entgangen waren.
    »Nein, es lohnt nicht die Mühe; es soll für die Kinder zurückbleiben ... Ich werde mich in Paris mit dem Nötigen versorgen.«
    Wieder waren zwei Schalen hinabgefahren, und Pierron entschloß sich, die Maheu direkt aufzufordern.
    »Man erwartet euch; ist es bald genug geschwätzt?«
    Doch sie wandte ihm den
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher