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Germinal

Germinal

Titel: Germinal
Autoren: Emile Zola
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niemanden wiedergesehen. Frau Maheu hatte ihn ein einziges Mal im Krankenhause besucht; sie hatte gewiß nicht wiederkommen können. Allein er wußte, daß jetzt das ganze Dorf der Zweihundertvierzig in der Jean-Bart-Grube anfuhr, und daß sie selbst die Arbeit wiederaufgenommen hatte.
    Allmählich bevölkerten sich die Wege. Unablässig zogen Gruppen von Bergleuten bleich und still an Etienne vorüber. Man sagte, die Gesellschaft treibe Mißbrauch mit ihrem Sieg. Nach einem zweiundeinhalb Monate währenden Arbeitsausstande waren die Bergleute durch den Hunger überwunden, wieder zu den Gruben zurückgekehrt und hätten sich da dem Verzimmerungstarife fügen müssen, dieser versteckten Lohn Verminderung, die jetzt, weil vom Blute der Kameraden befleckt, noch verhaßter war als früher. Man stahl ihnen eine Stunde Arbeit. Man zwang sie, ihren Eid, sich nicht zu unterwerfen, zu brechen, und dieser ihnen aufgezwungene Meineid saß ihnen in der Kehle wie eine Gallenblase. Die Arbeit wurde überall wiederaufgenommen, in Mirou, Magdalene, Crèvecoeur, auf dem Siegesschacht. Nach allen Richtungen zog die Herde der Arbeiter auf den noch halb dunkeln Wegen dahin; lange Züge von Männern mit zu Boden gesenkten Häuptern gleich dem Vieh, das zur Schlachtbank geführt wird. Sie fröstelten in ihren Leinwandkitteln; sie kreuzten die Arme und krümmten den Rücken, auf welchem der zwischen Hemd und Jacke untergebrachte »Ziegel« einen Höcker bildete. Und diesen Massen, die stumm und düster ohne ein Lachen, ohne einen Seitenblick zur Arbeit zurückkehrten, merkte man es an, daß sie im verhaltenen Zorn die Zähne aufeinander preßten, daß ihr Herz von Haß geschwellt war und sie nur den Geboten des Magens sich unterworfen hatten.
    Je mehr er sich der Grube näherte, desto mehr sah Etienne ihre Zahl anwachsen. Fast alle gingen einzeln; die in Gruppen ankamen, lösten sich in eine Kette auf, erschöpft, überdrüssig der anderen und überdrüssig ihrer selbst. Er sah einen ganz alten Mann, dessen Augen wie glühende Kohlen unter der bleichen Stirne leuchteten. Ein anderer noch junger Arbeiter ließ ein ununterbrochenes, heftiges Schnaufen hören. Viele trugen ihre Holzschuhe in der Hand, und man hörte kaum den weichen Schritt ihrer mit dicken wollenen Strümpfen bekleideten Füße. Es war ein endloser Menschenstrom; eine Niederlage, der gezwungene Marsch einer geschlagenen Armee, die gesenkten Hauptes dahinzieht, von dem geheimen Verlangen beseelt, den Kampf wiederaufzunehmen und sich zu rächen.
    Als Etienne in Jean-Bart ankam, tauchte das Werk im Dämmerlichte des Morgens auf; die an den Gerüsten hängenden Laternen brannten noch. Über den dunklen Gebäuden stieg ein leichter Rauch empor, einem weißen, zartrot gefärbten Federbusche gleichend. Er nahm seinen Weg über die Treppe des Sichtungswerkes, um sich nach dein Aufnahmesaale zu begeben.
    Die Anfahrt begann eben, die Arbeiter kamen von der Baracke herab, um zum Einfahrtsschachte zu schreiten. In diesem Getümmel und in dem Lärm blieb er einen Augenblick unbeweglich stehen. Rollende Hunde erschütterten den aus Eisenplatten gelegten Fußboden, die Räder drehten sich und rollten die Kabel auf und ab inmitten des Getöses der Schallrohre, der Signalglocken und der auf den Signalblock niederfallenden Hämmer. Er fand das Ungeheuer wieder, das seine Ration von Menschenfleisch verschlingt, die auf und nieder steigenden Schalen, die unablässig ihre Last hinabführen mit dem leichten Schlucken eines gefräßigen Riesen. Seit seinem Unglücksfall hatte er eine nervöse Abscheu gegen die Grube. Bei dem Anblick dieser versinkenden Schalen drehte sich ihm das Innere um; er mußte den Kopf wegwenden, der Schacht erbitterte ihn.
    In dem noch dunkeln Aufnahmesaale, in dem die ausgebrannten Laternen nur ein fahles Zwielicht verbreiteten, bemerkte er kein befreundetes Antlitz. Die Bergleute, die hier mit nackten Füßen, mit Lampen in der Hand warteten, betrachteten ihn mit großen, unruhigen Augen, dann neigten sie das Haupt und wichen beschämt vor ihm zurück. Ohne Zweifel kannten sie ihn und hatten keinen Groll mehr gegen ihn. Sie schienen im Gegenteil ihn zu fürchten und erröteten bei dem Gedanken, daß er ihnen Feigheit vorwerfen könne. Diese ihre Haltung schwellte sein Herz mit Stolz; er vergaß, daß diese Elenden ihn gesteinigt hatten; er gab sich wieder seinem Traum hin, diese Leute in Helden zu verwandeln und das Volk zu leiten, diese Naturkraft, die sich selbst
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