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Georg Büchner, "Woyzeck" - Textausgabe + Lektüreschlüssel

Georg Büchner, "Woyzeck" - Textausgabe + Lektüreschlüssel

Titel: Georg Büchner, "Woyzeck" - Textausgabe + Lektüreschlüssel
Autoren: Reclam
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eine schwere Zunge. Aber auch die anderen Armen des Stücks tun sich beim Sprechen schwer. Unvermögen und Nachlässigkeit wirken hier zusammen. »Was ein Mann, wie ein Baum«, sagt Maries Nachbarin Margreth beim Anblick des Tambourmajors (Szene 2). Ein richtiger Satz ist das nicht. Sie verwendet nur einfache Wörter. Ihren Eindruck fasst sie in ein simples Bild. »Ei, was freundliche Auge«, fährt sie boshaft und sprachlich unzulänglich fort, »Frau Nachbarin, so was is man an ihr nit gewöhnt«. Dass die Verwendung des südhessischen Dialekts im
Woyzeck
aufgrund der schweren Entzifferbarkeit von Georg Büchners Handschrift in manchen Passagen umstritten ist, wurde bereits angesprochen (vgl. 4. Werkaufbau ). Unstrittig ist jedoch die gezielte Verwendung von Dialektformen an ausgewählten Stellen, um einzelne Sprecher näher zu charakterisieren. Gerade bei den mittellosen Frauen wie Marie und Margreth, die ihr Leben lang nicht aus ihrem engen Umfeld herausgekommen sind, ist dieser mundartliche Einschlag berechtigterweise besonders stark zu verzeichnen.
    Die Sprache der Unteroffiziere kennzeichnet diese als ebenso ungebildet wie die zivilen Armen. Die Unterhaltung zwischen dem Unteroffizier und dem Tambourmajor in Szene 3 offenbart zudem eine Tendenz zum Derben und Prahlerischen, die mit dem fortwährenden Umgang von Männern miteinander beim Militär zu tun haben wird. Alle bewusste Wahrnehmung ist sprachlich strukturiert. Wer sich sprachlich nur undifferenziert auszudrücken vermag, wird demnach sich selbst und die Außenwelt kaum angemessen wahrnehmen und verstehen können. Das ist Woyzecks Fall. Sprache ist Ausdruck von Wissen. Woyzeck aber ist, wie Alfons Glück zutreffend hervorgehoben hat, in einem Grad unwissend, »wie es an dem Protagonisten einer Tragödie bis zu diesem Werk unvorstellbar gewesen ist«. Seine Unwissenheit ist Glück zufolge »nicht nur Mangel an Kenntnissen (Inhalten), sondern mehr noch Mangel an Begriffen (Instrumenten), vor allem an Kategorien, welche die realen Ursachen seines Elends erfassen könnten« (
Georg Büchner Jahrbuch
5, S. 108). In das Vakuum dieser Unwissenheit drängen, so Glück, von oben die herrschenden Ideen und von unten historisch überholter, obskurer Aberglaube. Beides trage zur Desorientierung Woyzecks bei.
    Die Plausibilität dieser Analyse lässt sich leicht erweisen. Die Gespräche mit dem Hauptmann und dem Doktor zeigen, dass Woyzeck die herrschenden Ideen wie Tugend, Moral oder Persönlichkeitsstruktur gierig aufsaugt, weil sie Orientierung in Aussicht stellen. Seine Bemühungen, ihnen einen Platz innerhalb seines Wahrnehmungssystems zuzuweisen, scheitern jedoch kläglich. Das Resultat ist eine noch dichtere Konfusion.
    Der obskure Aberglaube bildet den entgegengesetzten Pol der Einflüsse, denen Woyzeck ausgesetzt ist. Dass dieser Aberglaube natürlich alles andere als geeignet ist, Woyzecks Denken eine sinnvolle Struktur zu geben, wird gleich in den ersten, zunächst kaum verständlichen, Sätzen des Stücks deutlich: »Ja Andres; den Streif da über das Gras hin, da rollt abends der Kopf, es hob ihn einmal einer auf, er meint es wär’ ein Igel. Drei Tag und drei Nächt und er lag auf den Hobelspänen (leise) Andres, das waren die Freimaurer, ich hab’s, die Freimaurer, still!« (vgl. Erläuterungen, Kap. 5 ). Woyzecks Behauptung »ich hab’s« steht in verzweifelt komischem Kontrast zu dem unwillkürlichen Eindruck des Zuschauers, dass im Kopf der Figur alles durcheinander geht.
    Aberglaube ist volkstümliche Überlieferung. Volkstümliche Überlieferung spielt auch in anderer Hinsicht im
Woyzeck
eine große Rolle. Die Armen drücken ihre Stimmungen vielfach aus, indem sie Volkslieder singen. Das gilt besonders für Andres und Marie, aber auch für die Handwerksburschen (Szene 12), den Tambourmajor (Szene 15), die Mädchen auf der Straße (Szene 19), Woyzeck und Käthe (Szene 23). Weil sie für ihre Gefühle keinen individuell passenden Ausdruck finden, sprechen sie überkommene Worte nach, die ihre Stimmungen auszudrücken scheinen. Der oft unzusammenhängende assoziative Stil der Lieder entspricht dabei ihrem eigenen ungeordneten Denken. Dass die ungebildeten Leute im Stück ihre eigenen Empfindungen in vorgegebenen fremden Mustern auszudrücken gewohnt sind, zeigt sich auch in Maries Bibellektüre (Szene 17), in den Bibelanklängen von Woyzecks Sprache und den Märchenerzählungen des Narrs und der Großmutter (Szenen 17 und 19).
    Diese Hinweise
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