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Generation P

Generation P

Titel: Generation P
Autoren: Viktor Pelewin
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das Telefon.
    Tatarski erstieg das Bauwerk ohne Zwischenfälle. In dem Türmchen für die Fahrstuhltechnik war alles so, wie er es damals verlassen hatte: der Tisch in der Mitte und die leeren Flaschen auf dem Fußboden.
    »Na?« fragte er vernehmlich. »Wo ist denn nun die liebe Göttin?«
    Niemand gab Antwort, er hörte nur den Wind unten im Herbstwald rauschen. Tatarski lehnte sich an die Wand, schloß die Augen und lauschte. Irgendwie schien ihm, es müßten Weiden sein, die da rauschten, eine irgendwann im Radio gehörte Liedzeile ging ihm durch den Kopf: Es sind die Schwestern der Trauer; die in den Weiden wohnen. Und prompt mischten sich weibliche Stimmen in das Blätterrauschen, brüchiger Widerhall von Worten, die vor Ewigkeiten einmal zu ihm gesagt worden und nachher in den toten Winkeln des Gedächtnisses gelandet waren.
    »Und wissen sie denn«, wisperten die Stimmen, »daß da nichts ist in ihrer wohlbekannten Welt, nur eingedickte Schwärze? Kein Ein – und kein Ausatmen, kein Rechts, kein Links, kein Fünfter und kein Zehnter? Und wissen sie denn, daß ihre Wohlbekanntheit wohl keinem bekannt ist?«
    »Alles ist anders, als die Leute sich denken: Es gibt weder Wahrheit noch Lüge, es gibt nur den einen, unendlich klaren, puren und schlichten Geist, worin die Seele wölkt wie ein Tropfen Tinte im Wasserglas. Und hört der Mensch endlich auf, diese Reinheit wie Tinte zu trüben, dann geschieht weiter nichts – und zu sehen wird sein, daß das Leben ein Rascheln ist, ein raschelnder Vorhang im Fenster eines vor Zeiten zerstörten Turms, und jedes Fädchen in diesem Vorhang denkt, die große Göttin sei mit ihm. Und so ist es auch.«
    »Es gab eine Zeit, da wir, und auch du, mein Geliebter, in Freiheit gewesen – warum nur hast du diese böse, verkommene Welt erschaffen?«
    »Sag bloß, das war ich?« flüsterte Tatarski.
    Niemand gab Antwort. Tatarski schlug die Augen auf und blickte durch den Spalt der offenen Tür. Über dem Wald hing, einem Gebirge gleich, eine Wolke – so unermeßlich groß, daß die endlose Weite des Himmels, die er seit der Kindheit aus den Augen verloren hatte, plötzlich wieder erkennbar war. An einem der Wolkenhänge gab es einen schmalen, spitz zulaufenden Höcker, er sah aus wie ein nebelverhangener Turm. Etwas in Tatarski begann zu rutschen. Er meinte plötzlich zu wissen, daß die ephemere Himmelssubstanz, woraus die weißen Berge samt diesem Turm bestanden, auch in ihm gewesen war. Damals – es lag weit, weit zurück, wohl noch vor seiner Geburt – war es ein leichtes gewesen, zur Wolke zu werden und hinauf bis zur Spitze des Turms zu schweben. Das Leben hatte es vermocht, diese sonderbare Substanz aus seiner Seele zu drängen, bis auf einen winzigen Rest, gerade genug für eine Sekunde der Erinnerung.
    Tatarski sah nun, daß der Fußboden unter dem Tisch aus nichts als einer Lage zusammengenagelter Bretter bestand. Wenn er durch die Ritzen zwischen ihnen spähte, konnte er in den schwarzen Abgrund sehen. Ach ja, fiel ihm ein, der Fahrstuhlschacht. Das hier war der Geräteraum. Fehlten nur die Wächter vor der Tür. Er trat vorsichtig auf die Planken und setzte sich an den Tisch. Der Gedanke, daß sie bersten und mit ihm in die Tiefe segeln konnten, auf den in vielen Jahren dort abgelagerten Müll hinunter, war etwas ungemütlich. Aber die Planken waren dick und stabil.
    Es mußte doch jemand hier gewesen sein – Obdachlose aus der Umgebung vielleicht. Auf dem Boden lagen frisch zertretene Kippen und auf dem Tisch ein Zeitungsausschnitt mit dem Fernsehprogramm der Woche. Tatarski las den Titel der letzten Sendung am ausgefransten unteren Rand:
    0.00 Uhr – Das goldene Zimmer.
    Was ist denn das für eine Sendung? fragte er sich. Muß irgendwas Neues sein. Er stützte die Arme auf den Tisch und das Kinn auf die gefalteten Hände, den Blick auf das Photo mit der springenden Schönheit im Sand gerichtet, das noch an der alten Stelle hing. Bei Tageslicht waren die Wellen und Schlieren nicht zu übersehen, die die Feuchtigkeit dem Papier zugefügt hatte. Ein Fleck befand sich ausgerechnet auf dem Gesicht der Göttin, das dadurch faltig, schlaff und alt erschien. Tatarski trank den Rest vom Wodka und schloß wieder die Augen.
    Der kurze Traum, der ihn nun heimsuchte, war sehr sonderbar. Er lief den Sandstrand entlang auf ein in der Sonne blitzendes goldenes Standbild zu – es lag noch in einiger Ferne, doch daß es ein weiblicher Torso ohne Kopf und Arme war, ließ sich
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