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Generation Laminat - mit uns beginnt der Abstieg

Generation Laminat - mit uns beginnt der Abstieg

Titel: Generation Laminat - mit uns beginnt der Abstieg
Autoren: Kathrin Fischer
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Bildungssystem aus, schaffte kostenlose Schulbildung und über die Sozialversicherungssysteme kostenlose oder günstige medizinische Versorgung, Renten- und Arbeitslosenunterstützung. Das Ziel dabei war, die »spürbaren Unzulänglichkeiten der Märkte« auszugleichen. 18
    18 Tony Judt: Dem Land geht es schlecht, S. 56
    Wie stark nach dem Krieg der Konsens darüber war, lässt sich an den Landesverfassungen Deutschlands ablesen. In der hessischen Verfassung, die von CDU- und SPD-Politikern gemeinsam erarbeitet und am 1. Dezember 1946 verabschiedet wurde, stehen beispielsweise in Artikel 38 die aus heutiger Sicht unwahrscheinlichen Sätze: »Die Wirtschaft des Landes hat die Aufgabe, dem Wohle des ganzen Volkes und der Befriedigung seines Bedarfs zu dienen. Zu diesem Zweck hat das Gesetz die Maßnahmen anzuordnen, die erforderlich sind, um die Erzeugung, Herstellung und Verteilung sinnvoll zu lenken und jedermann einen gerechten Anteil an dem wirtschaftlichen Ergebnis aller Arbeit zu sichern und ihn vor Ausbeutung zu schützen.«
    Jedermann sollte einen gerechten Anteil erhalten, ganz gleich, von welcher Position aus er gestartet war. Heribert Prantl, Leiter des Ressorts Innenpolitik bei der Süddeutschen Zeitung, beschreibt diese Haltung so: »Das Schicksal teilt ungerecht aus; und es gleicht Ungerechtigkeiten nicht immer aus. Hier hat der Sozialstaat seine Aufgabe. Er sorgt dafür, dass der Mensch reale, nicht nur formale Chancen hat.« Der Sozialstaat ist also entgegen eines weitverbreiteten Missverständnisses nicht einfach der Gabengeber für die, die es brauchen, er sorgt nicht nur für Benachteiligte, sondern will die strukturellen Ursachen abbauen. 19
    19 Heribert Prantl: Eliten, Dekadenz und Demokratie, S. 244 f.
    Um diesen Abbau zu bewerkstelligen, muss der Staat konkret tätig werden, und das, sagt Berthold Vogel, spielte gerade für die Entwicklung der Mittelschicht eine besondere Rolle, weil dadurch auch neue Arbeitsfelder entstanden. Nämlich im öffentlichen Dienst, im Gesundheitswesen, im Bildungswesen, in den Ämtern, die die öffentlichen Infrastrukturen in Gang brachten.
    Die Idee an sich – dass Altersrenten oder kostenlose medizinische Versorgung erstrebenswert seien – war weder neu noch revolutionär. Das wirklich Neue war die Überlegung, dass diese Aufgaben am besten vom Staat gewährleistet werden, also auch in staatliche Hände gehörten. 20 Dieser politische Konsens war damals in fast allen europäischen Ländern und in den USA sehr hoch. Der Staat wurde keineswegs als bevormundend betrachtet, sondern als Garant von Schutz und Sicherheit.
    20 Tony Judt: Dem Land geht es schlecht, S. 66
    In Deutschland entwickelte Ludwig Erhard das »Modell Deutschland«, die soziale Marktwirtschaft, in der ökonomischer Erfolg und sozialer Ausgleich kombiniert wurden und die für »Wohlstand für alle« sorgen sollte.
    Dass es sich bei diesem »Wohlstand für alle« um einen Mythos handelt, das habe ich erst bei meinen Recherchen zu diesem Buch herausgefunden. Denn die sozialen Unterschiede blieben bestehen, die ungleichen Einkommensverhältnisse unangetastet: »Deutschland war nie die soziale Marktwirtschaft, wie sie sich als Klischee eingebürgert hat: Die Chancengleichheit war immer eingeschränkt.« 21 Allerdings stieg durch den Wirtschaftsaufschwung tatsächlich der Wohlstand in allen Schichten. Auch Arbeiter, so Ulrike Herrmann, konnten sich plötzlich ein Wohnzimmer leisten. »Das sind zentrale Prestigezugewinne. Bis dahin hatten sie nur eine Wohnküche, jetzt konnten sie es sich auch leisten, ein Zimmer zu haben, das gar nicht genutzt wurde, außer am Sonntag. Oder sie konnten in den Urlaub fahren, hatten ein Auto, hatten ein Konto, keine Lohntüte mehr. Am Ende hieß es ja auch nicht mehr Arbeiter, sondern Angestellte.«
    21 Ulrike Herrmann: Hurra, wir dürfen zahlen, S. 36
    Das Wirtschaftswunder führte dazu, dass, wie der Soziologe Ulrich Beck in einem berühmt gewordenen Bild bemerkte, die gesamte Gesellschaft im Fahrstuhl ein paar Stockwerke nach oben fuhr. Die Klassenunterschiede blieben bestehen, aber fast alle profitierten vom Wachstum und den neu geschaffenen Sicherungsmechanismen. Und interessierten sich deshalb nicht für soziale Klassen, wie mir der Jenaer Soziologe und Wohlfahrtsstaat-Experte Stephan Lessenich erzählt. »Solange es bergauf und allen gut geht, verschwinden im Alltag die Ränder oben und unten: Denen unten geht es relativ gut, und die oben, die sollen halt ihr
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